Für ein Stimm- und Wahlrecht für alle Einwohner*innen der Schweiz

11.11.2021 , in ((Politik)) , ((Keine Kommentare))

Von der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 profitierten nur drei Viertel aller Frauen in der Schweiz, nämlich jene mit schweizerischer Staatsangehörigkeit. Dass politische Teilhabe in der Schweiz in der Regel an die Staatsangehörigkeit gebunden ist, schafft ein Demokratiedefizit. An der diesjährigen Frauensession setzte sich die Kommission für Einwohner*innenstimmrecht deshalb für eine Ausweitung der politischen Rechte ungeachtet der Staatsbürgerschaft ein.

Da derzeit staatsbürgerliche Rechte in der Schweiz in der Regel an die schweizerische Staatsangehörigkeit gebunden sind, hatte 2020 ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz auf nationaler Ebene keine politischen Mitspracherechte.

Andererseits existiert in der  Schweiz mancherorts seit 1849 das kommunale und seit 1979 das kantonale Stimm- und Wahlrecht für Einwohner*innen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit – jedoch mit sehr unterschiedlichen Bestimmungen bezüglich Aufenthaltsstatus und Wohnsitzdauer. Auf kantonaler Ebene ist dies in den Kantonen Neuenburg und Jura der Fall. Auf kommunaler Ebene ist es zudem in den Kantonen Jura, Neuenburg, Freiburg, Waadt, Genf, Basel-Stadt, Appenzell Ausserrhoden und Graubünden zugelassen oder vorgeschrieben. Das passive Wahlrecht (die Möglichkeit, sich selbst zur Wahl zu stellen) besteht in allen Gemeinden der genannten Westschweizer Kantone, während die betreffenden Deutschschweizer Kantone dessen Gewährung ihren Gemeinden überlassen. In rund 600 Gemeinden können Menschen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit so wählen und abstimmen und 2015 waren gesamtschweizerisch 148 von ihnen in Gemeindelegislativen aktiv.

Keine Mitsprache trotz Repräsentation

Auf Bundesebene sowie in den meisten deutschsprachigen Kantonen haben Einwohner*innen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit also kein politisches Mitspracherecht – obwohl sie im Proporzsystem der Schweiz repräsentiert werden. Die einem Kanton zustehenden Sitze im Nationalrat werden nämlich von der gesamten ständigen Wohnbevölkerung abgeleitet, welche ausländische Staatsangehörige mit einer Anwesenheitsbewilligung für mindestens 12 Monate einschliesst.

Lediglich zahlenmässig repräsentiert zu werden, genügt jedoch nicht, denn die Erfahrungen und Perspektiven von Menschen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit werden damit nicht einbezogen. Dieses Demokratiedefizit (Blatter et al. 2016) wird nur behoben, wenn die Einwohner*innen, deren Alltag von politischen Entscheidungen beeinflusst wird, ein politisches Mitspracherecht haben (Abizadeh 2008; Bauböck 2005). Auch im NCCR Policy Brief kurz und bündig #20 zu inklusiveren Wahlrechten wird deutlich, dass Menschen dort wählen möchten, wo sie leben.

Wer sind die Einwohner*innen der Schweiz?

Der Begriff «Einwohner*innen der Schweiz» bezieht sich auf die ständige Wohnbevölkerung, die per 31. Dezember 2020 8’670’300 Menschen umfasste. 75% davon besassen die schweizerische Staatsangehörigkeit und die restlichen 25% werden üblicherweise als «ständige ausländische Wohnbevölkerung» bezeichnet.

Die diesem Begriff zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Schweizer*in und Ausländer*in signalisiert Abgrenzung oder Zugehörigkeit ohne individuelle Lebenswege oder Selbstidentifikation miteinzubeziehen (Yuval-Davis 2006; Glick Schiller & Salazar 2013). Dabei wurde jede*r fünfte Einwohner*in ohne schweizerische Staatsangehörigkeit in der Schweiz geboren. Von jenen, die nicht in der Schweiz geboren wurden, wohnen 24% bereits seit 20 oder mehr Jahren, 23% seit zehn bis neunzehn Jahren, weitere 24% seit fünf bis neun Jahren und 29% bis zu vier Jahre in der Schweiz.

«Einwohner*innen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit» ersetzt deshalb in diesem Blogbeitrag den Begriff «ausländische Wohnbevölkerung». Diese Formulierung wurde von der Kommission für Einwohner*innenstimmrecht der diesjährigen Frauensession bewusst gewählt, um sichtbar zu machen, dass sich in der Schweiz geborene und aufgewachsene Menschen oft nicht als Ausländer*in wahrnehmen. Dies betrifft insbesondere Jugendliche, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird.

Zugehörigkeit und Inklusion durch politische Rechte

Die Kommission setzt sich dafür ein, dass analog zur politischen Inklusion der Frauen mit schweizerischer Staatsangehörigkeit im Jahr 1971 nun auch Menschen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit zu Demokratiebeteiligten (Leimgruber 2016) werden. Sie fordert das aktive sowie passive Wahl- und Stimmrecht auf Bundesebene für alle Einwohner*innen der Schweiz, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz leben.

Indem möglichst alle betroffenen Personen das Recht zur politischen Teilhabe erhalten, wird nicht nur das oben erwähnte Demokratiedefizit behoben, sondern ihre Perspektiven können einbezogen (Perez 2019) und politische Entscheide und deren Umsetzung breiter abgestützt werden. Durch die Einbindung möglichst vieler Einwohner*innen würden deren Zugehörigkeitsgefühl und die Funktionsfähigkeit des föderalistischen, partizipativen und subsidiären Systems der Schweiz gestärkt.

Was wäre wenn?

Wie eine Untersuchung zeigt, würde sich tendenziell kaum etwas an Abstimmungsresultaten ändern, wenn politische Rechte inklusiver gestaltet werden würden. Und dort, wo dies möglich ist, stimmen Einwohner*innen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit weniger oft ab als solche mit Schweizer Staatsangehörigkeit (Ruedin 2018).

Die zentrale Frage ist jedoch nicht, ob sich die politische Landschaft verändern würde. Vielmehr müsste gefragt werden, ob es denn legitim war, dass vor 1971 nur schweizerische Männer politische Entscheide trafen und heute nur drei Viertel der ständigen Wohnbevölkerung für alle bestimmen.

Da bis 1971 auch schweizerische Frauen von der politischen Teilhabe ausgeschlossen waren, ist die umfassende Assoziation zwischen Staatsangehörigkeit und politischer Mitsprache durch das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst 50 Jahre jung. Ausserdem haben Menschen ohne schweizerische Staatsangehörigkeit auf kommunaler sowie kantonaler Ebene bereits verschiedentlich Mitspracherechte. Im Kanton Neuenburg konnten Männer ohne schweizerische Staatsangehörigkeit gar früher kommunal mitbestimmen  als Schweizerinnen. Politische Rechte werden in der Schweiz also seit jeher nicht zwingend zusammen mit der Staatsangehörigkeit gedacht und es wäre nun an der Zeit, wie von der Kommission für Einwohner*innenstimmrecht gefordert, diese inklusiver auszugestalten und auf alle Einwohner*innen auszudehnen.

Zur Frauensession: 1991 fand die erste Frauensession statt und am 28. und 29. Oktober 2021 die zweite. 246 Frauen* aus allen Regionen der Schweiz diskutierten ihre dringlichsten Anliegen in verschiedenen Kommissionen und unterbreiteten Parlament und Bundesrat konkrete Forderungen.

Petra Sidler ist Doktorandin an der Université de Neuchâtel, an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und im nccr – on the move Projekt Overcoming Inequalities in the Labor Market: Can Educational Measures Strengthen the Agency and Resilience of Migrants, Refugees, and their Descendants?

Referenzen

– Abizadeh, A. (2008). Democratic Theory and Border Coercion. Political Theory 36(1), 37–65.
– Bauböck, R. (2005). Expansive Citizenship—Voting Beyond Territory and Membership, PS: Political Science & Politics 38(4), 683–687.
– Blatter, J., Schmid, S. D. & Blättler, A. C. (2017). Democratic Deficits in Europe: The Overlooked Exclusiveness of Nation‐States and the Positive Role of the European Union, JCMS: Journal of Common Market Studies55(3), 449-467.
– Ruedin, D. (2018). Participation in Local Elections: Why Don’t Immigrants Vote More? Parliamentary Affairs 71(2), 243–262.
– Glick Schiller, N. & Salazar, N. B. (2013). Regimes of Mobility Across the Globe, Journal of Ethnic and Migration Studies 39(2), 183–200.
– Leimgruber, Walter (2016). Demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger ausweiten. In: Christine Abbt & Johan Rochel (Hrsg.) Migrationsland Schweiz. Hier und Jetzt, 21–37.
– Perez, C. C. (2019). Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men. Random House.
– Yuval-Davis, N. (2006). Belonging and the politics of belonging. Patterns of Prejudice 40(3), 197–214.

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