Von Grenzkontrollen und Grenzen der Kontrolle

09.09.2016 , in ((Media, Politica)) , ((No commenti))
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In den vergangenen Wochen rückte das italienisch-schweizerische Grenzgebiet in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Es wurde deutlich, dass auch im Zeitalter der Schengener Abkommen nationalen Grenzen und ihrer Kontrolle eine grosse Bedeutung zukommt, diese aber nur begrenzt möglich ist.  Was geschieht heute an der Grenze? Und warum denken wir nicht über weniger statt über mehr Grenzkontrolle nach?

Es liegt erst wenige Jahre zurück, seitdem sich diejenigen, die einen Schweizerpass oder ein Identitätsdokument eines EU-Staates besitzen, über weggefallene Kontrollen der Identitätspapiere innerhalb des Schengenraumes freuen konnten: Im Zug von Mailand nach Bern musste man keinen Ausweis mehr zeigen, an Flughäfen wurde man nicht mehr durch Passkontrollen aufgehalten. Mit dem Schengener Übereinkommen, das seit Ende 2008 auch in der Schweiz in Kraft getreten ist, wurden systematische Personenkontrollen an den Landesgrenzen abgeschafft. Für viele Menschen ist grenzfreies Reisen innerhalb Europas damit gelebte Realität geworden.

Abschottung als Lösung?

Nationale Grenzen und ihre Kontrolle stehen jedoch spätestens seit dem Sommer 2015 wieder im Fokus des öffentlichen und medialen Interesses. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht über Landesgrenzen und ihre relative Schliessung – teilweise durch Zäune oder Mauern – berichtet wird: Ventimiglia/IT – Menton/F, Ungarn – Serbien, Norwegen – Russland, Türkei – Bulgarien, Calais/F – Dover/UK, Ceuta/SP – Marokko, Österreich – Italien, Griechenland – Mazedonien, Como/IT – Chiasso/CH etc. Es wird deutlich, dass Landesgrenzen Kristallisationsorte nationaler Ordnungssysteme sind, an denen unterschiedliche Zuständigkeiten und Vorstellungen von Zugehörigkeit aufeinandertreffen.

Grenzüberschreitende Migrationsbewegungen zeigen exemplarisch, dass Ereignisse und Entscheidungen innerhalb eines Staates auch das Geschehen jenseits seiner Grenzen beeinflussen. Die Schweiz sowie andere Länder in Europa können sich nicht der Konsequenzen davon entziehen, dass Menschen aufgrund von Krieg, Vertreibung und (kolonialer) Gewalt in anderen Teilen der Welt fliehen. Die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate haben verdeutlicht, welche oft unvorhersehbaren Auswirkungen in einer globalisierten Welt und erst recht in einem mannigfach verflochtenen Europa nationale Abschottung und Alleingänge haben können. Was etwa Italien tut – z.B. Geflüchtete registrieren oder sie ohne Registrierung weiterreisen lassen, Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge angemessen aufnehmen oder sie ihrem Schicksal auf der Strasse überlassen – bekommt die Schweiz unmittelbar zu spüren. Was die Schweiz an ihrer Südgrenze tut oder lässt, merkt auch Deutschland im Norden. Ganz zu schweigen von der Rolle der Türkei oder Libyens.

Gegenwärtig setzen die Staaten in Europa auf Kontrolle, sowohl der Aussen- als auch punktuell der Binnengrenzen. Die aktuellen Zahlen [1] zeigen, dass sich die Menschen dadurch aber nicht davon abhalten lassen, sich auf äusserst riskanten Wegen Zugang zu Europa zu ermöglichen bzw. in menschenunwürdigen Lagern auszuharren, um via Transit- oder Sekundärmigration an einen Ort zu gelangen, an dem für sie eine Zukunft und die Verwirklichung ihrer Lebenspläne vorstellbar sind.

Grenzkontrollen in der Schweiz

In der Schweiz ist das Grenzwachtkorps (GWK) in Kooperation mit den Kantonspolizeien für die Kontrolle der Landesgrenze zuständig, die trotz Schengenmitgliedschaft nie aufgegeben wurde. Im Sommer 2016 ist die Zahl der an der Südgrenze kontrollierten Personen, die ohne gültige Dokumente einreisen wollen, sprunghaft angestiegen. [2]  Das GWK beruft sich dabei auf die Position, dass es den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen hat, sicherzustellen, dass keine sogenannten ‘illegalen Grenzübertritte’ stattfinden. Die Verhinderung der unerwünschten Migration in einem durch Mobilität und Zirkulation geprägten Europa praktisch durchzuführen, ist in der Praxis heikel und schwierig. Das zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass die einzelnen GrenzwächterInnen in verschiedenen Situationen über Spielraum verfügen: Wen kontrollieren sie im Zug? Welche Fragen stellen sie in welcher Art von Interaktion und Kommunikation, um einen eventuellen Schutzbedarf festzustellen und darüber zu entscheiden, in welche rechtliche und administrative Kategorie ein Mensch eingeteilt wird? Gegenwärtig werden alle Reisenden zwischen Mailand und Chiasso einer genauen Sichtkontrolle unterzogen, und zwar aufgrund von Hautfarbe, was bei schwarzen SchweizerInnen oder schwarzen EU-BürgerInnen zu Unmut und Diskriminierungserfahrungen führt. [3]

Wer bei einer Kontrolle keine Dokumente vorweisen kann, die ihn oder sie zum Grenzübertritt berechtigen, soll gemäss geltendem Recht entweder auf das Territorium des Staates zurückgebracht werden, der für die Person zuständig ist  oder am Grenzposten ein Asylgesuch stellen, wenn er oder sie auf Schutz angewiesen ist. An der nationalen Grenze werden enge familiäre Bande dabei nur selten und persönliche Investitionen, andere soziale Beziehungen oder einfach das Ziel eines besseren Lebens nicht als Argument berücksichtigt, jemanden ein- oder durchreisen zu lassen.

Eine Verkettung von staatlichen Praktiken und menschlichen Reaktionen führte dazu, dass unzulängliche Versorgungssituationen von Geflüchteten – wie wir sie bis anhin eher aus Italien, Griechenland oder Frankreich kannten – näher an die Schweiz gerückt sind: Der Park am Bahnhof San Giovanni in Como steht als Sinnbild für eine restriktive Asylpolitik, die die Schweiz als Asyl- und Transitland abzuschotten sucht. Der Park und seine dort gestrandeten Menschen gehören jedoch zur Schweizer und zur europäischen Migrations- und Asylpolitik.

Grenzfreies Reisen als Zukunftsperspektive

Und, zu dieser Politik gehören auch jene, die sie in Frage stellen und angesichts der humanitären Notsituationen, wie sie im Europa des 21. Jahrhunderts kaum jemand für möglich gehalten hätte, aktiv werden: die Freiwilligen, die in Como Unterstützung leisten; jene, die letztes Jahr an der «Balkan-Route» und nach wie vor auf den griechischen Inseln humanitäre Hilfe leisten oder die in der Schweiz Asylsuchende und Geflüchtete unterstützen.

Auf politischer Ebene setzt man neben Kontrolle auf Umverteilung – Relocation und Resettlement sind die Schlagworte. [4] Angesichts solch gut beabsichtigter, aber langwieriger, administrativ und finanziell aufwändiger und teilweise absurd erscheinender Verschiebungsaktionen [5], mit denen versucht wird, Menschen einem staatlichen Territorium zuzuschreiben, fragt sich allerdings, ob es nicht Zeit wäre, die betroffenen Menschen in den Fokus zu rücken. Anstatt sie in Europa gegen ihren Willen wahlweise zwischen verschiedenen Zuständigkeiten bzw. Nichtzuständigkeiten hin und her zu schieben, festzuhalten und durch Zäune, Mauern und Schlagbäume davon abzuhalten, ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu verwirklichen, erscheint es nicht nur menschlicher, sondern auch effizienter, ihnen die Entscheidungsfreiheit bezüglich ihres Ziellandes zurückzugeben: Grenzfreies Reisen innerhalb Europas, auch für Schutzsuchende.

Christin Achermann, Projektleiterin, nccr – on the move, Universität Neuenburg
Jana Häberlein, PostDoc, nccr – on the move, Universität Neuenburg

 

[1] Die Anzahl der Asylgesuche lag zwar im ersten Halbjahr 2016 durchwegs niedriger im Vergleich zum Vorjahr, sie befindet sich allerdings auf einem deutlich höheren Niveau als in den vorangegangenen fünf Jahren, in denen sie aufs ganze Jahr bezogen zwischen 15.500 (2010) und 28.600 (2012) lagen. (SEM Asylstatistik 2. Quartal 2016)
[2] Das GWK verzeichnete zwischen Januar und August 2016 29.970 Einreisen von Menschen ohne gültige Papiere und ohne ein Asylgesuch zu stellen. Im gleichen Zeitraum 2015 lag diese Zahl bei lediglich 16.352 Menschen. (NZZ, Grenzwachtkorps zählte Ende August fast 30’000 illegale Einreisen, 05.09.2016)
[3] Im Rahmen des Teilprojektes «The Vitality of Borders. Borderscapes, Migration Control and Everyday Practices» (Durchführung: Jana Häberlein), wie auch im übergeordneten nccr – on the move Projekt «Restricting Immigration: Practices, Experiences and Resistance» (Leitung: Christin Achermann) stehen darüber hinaus die Fragen im Zentrum, wie die GrenzwächterInnen ihre Aufgaben ausführen, wie sie dafür ausgebildet und angeleitet werden, wie sie sie selber verstehen, wie sie mit Handlungsspielraum und Ambivalenzen umgehen und welche affektiven Dimensionen sie ihrer Arbeit beimessen.
[4] Innerhalb des Resettlement-Programms evakuiert das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge stark gefährdete Menschen aus Krisengebieten wie etwa syrische Geflüchtete aus dem Libanon oder IrakerInnen aus Syrien. Im Rahmen des Relocation-Programms verteilt die Europäische Union Geflüchtete, die in den südlichen, mediterranen Ländern ankommen auf andere EU-Länder sowie assoziierte Staaten.
[5] So wurden gemäss Eurostat 2015 1196 Personen als sogenannte Dublin-Transfers aus der Schweiz nach Italien überstellt. (Link)
Parallel dazu hat die Schweiz bisher zugesagt, Italien 130 (andere) Personen im Rahmen des Relocation-Programmes abzunehmen. Tatsächlich überstellt wurden bis Juli 2016 deren 34. (Link)

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