Die Selbstbestimmungsinitiative schadet der Migrationsgesellschaft Schweiz
Migration ist grenzüberschreitend. Doch offenbar glauben viele Staaten immer noch, sie durch einzelstaatliche Massnahmen kontrollieren zu können. Eine Annahme der ˈSelbstbestimmungsinitiativeˈ könnte dazu führen, dass migrationsrelevante Verträge und Vereinbarungen aufgekündigt werden müssen. Für ein kleines und stark von der Migration abhängiges Land wie der Schweiz ist das keine Lösung. Völkerrecht und die Garantie der Menschenrechte sind wesentliche Elemente einer sinnvollen Migrationspolitik.
Die Schweiz ist eine Migrationsgesellschaft. Auswanderung und Einwanderung haben das Land seit jeher geprägt. Weltweit haben heute bereits jede vierte Schweizerin und jeder vierte Schweizer mindestens einen weiteren Pass, und rund 40 Prozent der Menschen, die in der Schweiz leben, haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Vor diesem Hintergrund einer enormen Mobilität interessiert die Frage, welche Auswirkungen die ˈSelbstbestimmungsinitiativeˈ für Migrantinnen und Migranten, aber auch für die Schweiz als Migrationsland haben kann.
Grundsätzlich gilt für die Migrationspolitik, dass es kaum Lösungen gibt, die einzelstaatlich beschlossen und durchgeführt werden können. Migration ist per definitionem grenzüberschreitend, so dass nur internationale Vereinbarungen helfen können, sie sinnvoll zu regeln und zu steuern. Migrantinnen und Migranten sind zudem besonders auf internationale Schutz- und Kontrollmechanismen angewiesen, weil sie sich – insbesondere in prekären Situationen wie z.B. Flucht – nicht auf staatlichen Schutz verlassen können. Es ist kein Zufall, dass sich auch die Auslandschweizer-Organisation (ASO) deutlich gegen die Initiative ausspricht.
Umgekehrt ist es gerade für Kleinstaaten wie die Schweiz, die besonders von der Migration betroffen wie auch von einem funktionierenden internationalen Umfeld abhängig sind, von grösster Wichtigkeit, dass sie ihre Anliegen in einem international geregelten Rahmen einbringen und durchsetzen können.
Schutz vor staatlicher Willkür
Internationale Konventionen wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) schützen Menschen vor staatlicher Willkür. Denn selbst bei demokratischen Staaten ist die Einhaltung der Menschenrechte nicht immer garantiert, was wiederum Migrantinnen und Migranten besonders betrifft, weil sie Ausgrenzung und Diskriminierung in einem besonderen Masse ausgesetzt sind. Auch die Schweiz, die in Fragen der Demokratie wie der Menschenrechte sicherlich eine ausgezeichnete Bilanz aufweist, hat als Konsequenz internationaler Vereinbarungen und Konventionen eine ganze Reihe von Verbesserungen vorgenommen, die allen Menschen im Lande zugutekommen.
Die Verfassung kann jedoch durch die Mehrheit von Volk und Ständen jederzeit abgeändert werden. Auch das Parlament kann Gesetze einführen, welche Menschenrechte verletzen. Umso wichtiger ist ein internationaler Schutz, damit die Menschenrechte in jedem Fall sichergestellt sind. Da hierzulande eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht existiert, ist ein solches Korrektiv von grosser Bedeutung, um Beschlüsse von Parlament oder Volk so auszulegen, dass die Menschenrechte gewahrt bleiben.
Auswirkungen auf Menschenrechte und Migrationsrecht
Die Annahme der ˈSelbstbestimmungsinitiativeˈ hätte Auswirkungen auf das Migrationsrecht. In der Vergangenheit wurden über Volksinitiativen Verfassungsbestimmungen eingeführt, welche dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung und Anwendung des Migrationsrechts einen klaren Rahmen setzen, etwa Art. 121 Abs. 3-6 (ˈAusschaffungsinitiativeˈ) und Art. 121a (ˈMasseneinwanderungsinitiativeˈ). Doch auch die Europäische Menschenrechtskonvention ist relevant für die Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung des Migrationsrechts. Würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz verurteilen, dann müsste die EMRK nach Annahme der ˈSelbstbestimmungsinitiativeˈ angepasst werden. Sollte dies nicht möglich sein, dann müsste die EMRK gekündigt werden.
Auch der Bundesrat erinnert in seiner Botschaft zur Initiative daran, dass deren Annahme dazu führen könnte, «dass die Schweiz Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) andauernd und systematisch nicht mehr anwenden kann.» Eine mögliche Folge davon wäre der Ausschluss der Schweiz aus dem Europarat, was einer Kündigung der EMRK gleichkäme. Die letzten Jahrzehnte haben aber gezeigt, dass Europarat und EMRK eine wichtige Rolle spielen bei der Förderung von Rechtsstaat, Demokratie, Sicherheit und Frieden in ganz Europa. Daran muss die Schweiz ein grundlegendes Interesse haben. Ist sie mit der Entwicklung in einzelnen Rechtsbereichen nicht einverstanden, kann und soll sie daran mitarbeiten, diese Entwicklungen zu korrigieren. Ein Abseitsstehen verhindert eine solche Beteiligung.
Es gibt auch eine ganze Reihe von migrationsrelevanten völkerrechtlichen Verträgen, die seinerzeit dem Referendum nicht unterstanden. Kann und soll die Schweiz riskieren, dass diese internationalen Verträge in Frage gestellt werden? Die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit wäre enorm und würde praktisch allen Bereichen der Gesellschaft und auch der Wirtschaft schaden, da der Wohlstand des Landes unter anderem auch von einer funktionierenden Migration abhängt.