Forschung in Zeiten der Krise
Die Herausforderungen, mit denen wir als Zeitgenossen konfrontiert sind, scheinen gegenwärtig enorm zu sein: Angefangen mit der Eurokrise, der Ukrainekrise, dem Aufruhr in Nordafrika und dem Mittleren Osten, bis zum nach Europa getragenen Terror. Die Folgen dieser Entwicklungen zu steuern, scheint fast unmöglich. Da stellt sich die Frage: Welchen Beitrag kann die Forschung leisten?
Die Schuldenkrise hat nicht nur im Süden Europas zu einer Legitimitätskrise geführt, die in der Folge das politische Koordinatensystem durcheinander gebracht hat. Mehrfach sind etablierte Parteien von der Bildfläche verschwunden oder haben markant an Macht eingebüsst. Radikale populistische Formierungen streben seither um politischen Einfluss. Die Wahrnehmung der Migration spielt bei dieser Neuorientierung der Politik eine zentrale Rolle.
Mit der fast vergessenen Ukrainekrise lässt sich belegen, wie begrenzt die Mittel der EU sind, innenpolitische, vermeintlich ethnische Krisen von EU-Anrainerstaaten wirkungsvoll zu entschärfen. Militärische Auseinandersetzungen und die Errichtung von de facto «Protektoraten», die später «eingefrorenen» werden, sind eine Realität, wie wir in Grenzgebieten Russlands und auf dem Balkan beobachten können. Unterdrückung der Minderheiten und deren schleichende Vertreibung sind Folgen dieser Appeasement-Politik.
Nordafrika und der gesamte Mittlere Osten sind ebenfalls in Aufruhr; nicht erst seit dem Arabischen Frühling. Aber dessen Niederschlagung in Libyen und Syrien wie auch im Jemen hat zu Bürgerkriegen geführt, bei denen sich die kämpfenden Fraktionen nichts ersparen und territoriale Neuordnungen mit einer Politik der «ethnischen und religiösen Säuberung» durchsetzen. Die Auswirkungen davon beobachten wir indifferent seit Monaten auf unseren Fernsehbildschirmen.
Der islamistische Terror, mit dem sich europäische Städte konfrontiert sehen, hat mannigfaltige Ursachen. Insgesamt trägt er aber zu einer Intensivierung der «Clashes of Civilizations» bei, diesmal innerhalb der Staaten. Dieser Konflikt hat das bedrohliche Potenzial, die Begrenzung von Menschen- und Minderheitenrechten durch eine Kultur des Verdachts zu legitimieren und unsere freiheitlichen, universalistischen Verfassungsprinzipien erodieren zu lassen.
Die Fähigkeit europäischer Gesellschaften, die Folgen dieser Entwicklungen zu steuern, scheinen begrenzt zu sein. Insbesondere der Migration wird in Zeiten turbulenter Zuspitzung von Konflikten eine grosse Bedeutung beigemessen. Gemäss Eurobarometer gehört Migration zu den Topthemen, neben Arbeitslosigkeit und Fragen der Sicherheit (Terror), welche die Europäerinnen und Europäer mit Sorge umtreiben. Auch in der Schweiz ist laut Sorgenbarometer 2015 Migration das relevanteste Thema und die Flüchtlingsthematik rangiert in den oberen Rängen. Negative Einstellungen und Haltungen gegenüber Migranten und Migrantinnen nehmen zu, wenn auch der Kenntnisstand über deren konkrete Situationen in der Öffentlichkeit besorgniserregend gering ist.
Was soll also der Beitrag der Forschung sein; in Zeiten, in denen sich krisenhafte Entwicklungen beschleunigen und überlagern, in denen etablierte Denkschablonen die gegenwärtige Situation nicht adäquat erfassen können? Was vermag Aufklärung, wenn Verweise auf die Komplexität der Situation auch als Unfähigkeit gedeutet werden, eine klare Orientierung in unübersichtlichen Zeiträumen geben zu können? Konfrontiert mit einer sich schnell verändernden Realität, in der die Politik und wir alle schnelle Antworten auf neue Problemlagen suchen und genaue Vorhersagen über den Einfluss bestimmter Massnahmen erwarten, kann die Problemlösungskompetenz von Sozialwissenschaften über Gebühr strapaziert werden. Forschung braucht Zeit; eine Ressource, die politische Entscheidungsträger vielfach nicht haben, weshalb sie eben nicht immer «evidenzbasiert» handeln, wie es neudeutsch heisst.
Politik ist ein Geschäft, das eigenen Regeln und Logiken folgt. Eine einfache Übertragung von Forschungsergebnissen in die politische Praxis ist schwer möglich, da die Politik das wissenschaftlich erzeugte Wissen stets für die eigene Logik neu übersetzen muss. Die Übersetzung wird zu einem Problem zwischen Sozialwissenschaft und politischer Praxis, wenn diese von den Forschenden als unzureichend, als verfälschend und missbräuchlich erlebt wird. Angesichts der oben beschriebenen Krisen gibt es heute eine Vielzahl von Übersetzungsfehlleistungen zwischen Wissenschaft und Politik. Die wichtigste betrifft den Faktor Zeit: Viele Krisen haben lang zurückreichende Ursachen, sind Folgen einer Verflechtung von langfristigen strukturierenden Phänomenen und kurzfristigen Schockereignissen. Gerade Migration wird als Folge solch kurzfristiger Ereignisse erlebt, weshalb Lösungen einzig in Bezug auf diese unmittelbaren Geschehnisse gesucht werden. Die längerfristigen Ursachen, die mitunter – verkürzt gesagt – auf Ungleichheiten innerhalb der Weltgesellschaft und asymmetrischen geostrategischen Interessen beruhen, geraten in den Hintergrund. Dies, da die Bekämpfung dieser Ursachen zu komplex ist und für die Weltgemeinschaft nicht oberste Priorität hat.
Politik bleibt ein Geschäft, das Wissen benötigt, wenn es langfristig erfolgreich sein will. Es ist vor allem das Wissen darüber, wie wichtig Interpretationsmuster für das Verständnis und die Gestaltung unserer Wirklichkeit sind. Sie geben der Forschung die Möglichkeit, neue, empirisch informierte Deutungen zu liefern. Diese Auseinandersetzung um Interpretation von Veränderungen ist das ureigene Feld der Sozialwissenschaften. Die Sozialwissenschaften – und mit ihnen auch die Migrations- und Mobilitätsforschung – können deshalb Politik zwar nicht ersetzen, sie können aber Beiträge zur Wahrnehmung, Deutung und Definition gesellschaftlicher Probleme und Risiken in die Öffentlichkeit tragen und einen Bezugsrahmen schaffen, der Handlungsperspektiven eröffnet oder begrenzt. Sie liefern letztlich das Korrekturwissen, das moderne Gesellschaften dringender denn je benötigen.
Gianni D’Amato
Direktor und Projektleiter nccr – on the move, Universität Neuenburg