10 Millionen Einwohner*innen – in zwei Schweizen?

12.10.2023 , in ((A Switzerland of 10 Million)) , ((No commenti))

Vorhersagen des Bundesamtes für Statistik sehen uns auf eine Schweiz mit 10 Millionen Einwohner*innen zusteuern. Allerdings werden sich diese sehr ungleich über das Staatsgebiet verteilen: Bestehende Ballungsräume werden noch grösser, periphere Gebiete relativ und zum Teil auch absolut gesehen gar kleiner. Mit ein Faktor für diese zunehmende territoriale Ungleichheit ist die Binnenwanderung, die hier näher beleuchtet wird. 

Die Schweiz war schon immer ein Land der Wanderungen. Damit sind nicht die Wanderwege gemeint, obwohl auch diese seit 2018 in der Bundesverfassung erwähnt sind, sondern die Wanderbewegungen von Menschen mit der Absicht, sich dauerhaft an einem anderen Ort niederzulassen. Neben der Einwanderung, die in diesem Wahljahr die Leute einmal mehr besonders beschäftigt, war die Schweiz lange auch bekannt für ihre Auswanderung. In den USA gibt es zum Beispiel ein New Glarus (geründet 1845), in Brasilien ein Nova Friburgo (gegründet 1818). Die Schweizer Auswanderung nach Übersee funktionierte als soziales und wirtschaftliches Ventil, welches den Druck auf die heimatlichen Arbeitsmärkte und fürsorglichen Auffangnetze minderte. Neber dieser historisch wichtigen Aus- und jener aktuell vieldiskutierten Einwanderung gibt es allerdings noch eine dritte, weit weniger beachtete Art der Wanderbewegungen: die Binnenwanderung. 

Binnenwanderung 

Bei der Binnenwanderung wird entweder der Gemeindewohnort gewechselt, zum Beispiel vom Land in die Stadt («Landflucht») oder umgekehrt («Stadtflucht»), oder der Wohnsitzkanton. Die aufsummierten jährlichen Wanderungen zwischen den Schweizer Kantonen sind von der Ein- und Auswanderung zahlenmässig gar nicht so weit weg, wie man vielleicht vermuten würde, wie Abbildung 1 zeigt.  

Im Schnitt wanderten seit 1999 gut 160’000 Personen pro Jahr in die Schweiz ein, 100’000 aus ihr heraus und 130’00 wechselten innerhalb der Schweiz den Wohnsitzkanton. Sowohl die Ein- als auch die Binnenwanderung haben beide nicht nur absolut, sondern auch relativ gesehen zugenommen: von 1.5% der ständigen Wohnbevölkerung im Jahr 1999 auf 2.2% (Einwanderung) bzw. 1.8% (Binnenwanderung) im Jahr 2022 

Immer mehr Einwohnerinnen und Einwohner wechseln also den Kanton, und auch die Wahrscheinlichkeit das zu tun stieg (leicht) an. Wenn also SVP-Präsident Marco Chiesa im neuesten Extrablatt davon spricht, dass netto so viele Leute in die Schweiz einwandern, wie die Kantone Schaffhausen oder Jura Einwohner*innen besitzen, so liesse sich auch sagen, es ziehe jedes Jahr der ganze Kanton Zug in einen anderen um. 

Abbildung 1: Ein-, Aus- und Binnenwanderung in der Schweiz, 1999–2022 

Daten: Bundesamt für Statistik (hier und hier). LOESS-Linien mit horizontalen Durchschnitten. 

Kantonale Unterschiede 

Wie so oft verbergen sich allerdings hinter diesen nationalen Zahlen grosse interkantonale Unterschiede. So weisen nur gerade neun Kantone über die letzten 20 Jahre hinweg ein positives Binnenwanderungssaldo auf (Abbildung 2). In den Kanton Aargau etwa sind netto gut 50’000 Personen aus anderen Kantonen zugewandert, nach Freiburg 35’000. Beide Kantone weisen für jedes der hier betrachteten Jahre ein positives Binnenwanderungssaldo auf. Die räumliche Nähe aber doch auch noch genügend grosse Distanz zu den Kernstädten Zürich, Bern und Lausanne mag das Ihre dazu beigetragen haben. Am anderen Ende der Skala befinden sich jedoch ausgerechnet die städtischen Kantone Basel-Stadt (-35’000) und Genf (-32’000). Auch Basel-Stadt verlor in jedem der hier betrachteten Jahre Einwohnerinnen und Einwohner an andere Kantone. 

Abbildung 2: Binnenwanderungssaldi pro Kanton, 1999–2022 

Daten: Bundesamt für Statistik. Schwarze Kreuze = Gesamtsaldo, Farbtöne = Jahre. 

Wachsende Schweiz, schrumpfende Schweiz 

Natürlich ist die Binnenwanderung nur einer unter vielen Faktoren, die das territoriale (Un-) Gleichgewicht beeinflussen. Noch zu erforschen bleiben zudem die Motive der Binnenwandernden, wie viele Menschen wieder in ihren Ursprungskanton zurück- und/oder in einen nächsten weiterwandern, und was mit jenen geschieht, die – gewollt oder ungewollt – zurückbleiben. Was passiert mit einem Ort und vor allem den dort verbliebenen Menschen, wenn permanent Leute abwandern?  

Ganz grundsätzlich ist die Verteilung der Bevölkerung über die Schweiz hinweg und – noch mehr – ihre projektierte Entwicklung bis ins Jahr 2050 sehr ungleich (Abbildung 3). So werden auch laut mittlerem «Referenzszenario» des Bundesamtes für Statistik die Kantone Zug und Genf ein Wachstum von über 30% gegenüber 2022 aufweisen, das Tessin und Graubünden allerdings um gut 5% schrumpfen. Auch die Kantone Neuenburg (+3%), Glarus (+4%) und Jura (+6%) werden nur knapp positiv unterwegs sein und weit weg vom interkantonalen Durchschnitt (16%) bleiben.  

Abbildung 3: Ständige Wohnbevölkerung der 26 Kantone in 1000, 1850–2050 

Daten: Bundesamt für Statistik (hier und hier). Von den drei Szenarien ist das mittlere «Referenzszenario» abgebildet. Dieses «geht von einem anhaltenden Wachstum der Wohnbevölkerung aus, die im Jahr 2050 voraussichtlich etwa 10.4 Millionen Personen umfasst». 

Der Kontrast zwischen den zwei Schweizen, den wir heute schon kennen, wird sich also noch verstärken: Beinhalten die vier grössten Kantone Zürich, Bern, Waadt und Aargau heute 47% der Gesamtbevölkerung, wird dieser Anteil bis 2050 auf 49% steigen.  

Eine 10-Millionen Schweiz wird dieses Ungleichgewicht also nicht nur nicht ändern, sondern gar noch verstärken – ausser natürlich, die Politik nimmt explizit Mittel in die Hand, um auch die Binnenmigration entsprechend zu beeinflussen. Eines der bereits erprobten Mittel ist hierbei die dezentrale Ansiedelung bestimmter Bundesstellen – etwa des Bundesamtes für Statistik in Neuenburg, der SUVA in Luzern oder des Bundesveraltungsgerichts in St. Gallen. Eine gute verkehrstechnische Anbindung peripherer Regionen ist dabei jedoch Fluch und Segen zugleich: Warum binnenwandern, wenn pendeln genauso gut geht? Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hat nach dem Nationalrat auch der Ständerat eine entsprechende Motion von Martin Candinas (Mitte, GR) im Mai dieses Jahres einstimmig überwiesen. 

Sean Müller ist SNF-Assistenzprofessor am IEP der Université de Lausanne. Er forscht vor allem zu Schweizer Politik und vergleichendem Föderalismus. Er ist Projektleiter des nccr – on the move Forschungsprojekts “A European Desert? The Territorial Economics and Politics of Emigration in Crisis Regions”.

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