Zehn Jahre Schengen/Dublin Mitgliedschaft – eine Zwischenbilanz

23.04.2019 , in ((Schengen/Dublin)) , ((No Comments))

Am 19. Mai 2019 stimmen die Schweizer*innen über die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie ab. Da das Schengen Assoziierungsabkommen vorsieht, dass die Schweiz ihre Gesetzgebung an dessen Weiterentwicklungen anpasst, besteht bei einer Ablehnung der Waffenrichtlinie die Gefahr, dass die Zusammenarbeit im Bereich Schengen/Dublin beendet wird. Die vorliegende Blog Serie zeigt auf, dass diese seit Dezember 2008 bestehende Zusammenarbeit die schweizerische Migrations- und Asylpolitik prägt und als Labor für die nähere Anbindung an Europa betrachtet werden kann.

Am 5. Juni 2005 hat das Schweizer Stimmvolk das Schengen bzw. Dublin Assoziierungsabkommen gutgeheissen. Nach Genehmigung durch die EU-Institutionen und einer Überprüfung durch den Schengen-Evaluationsausschuss ist die Schengen/Dublin Zusammenarbeit am 12. Dezember 2008 in Kraft getreten. Gemäss den Assoziierungsabkommen ist die Schweiz verpflichtet, innerhalb von zwei Jahren diejenigen EU-Rechtsinstrumente ins nationale Recht zu übernehmen, welche den Schengen- bzw. Dublin- Besitzstand weiterentwickeln. Die innerstaatliche Genehmigung nimmt entweder der Bundesrat oder das Parlament vor, je nachdem ob ein Gesetz oder eine Verordnung nötig ist. Muss ein Gesetz angepasst werden, untersteht der Erlass dem fakultativen Referendum. Mit Blick auf die Abstimmung vom 19. Mai hat die Interessengemeinschaft Schiessen Schweiz das Referendum gegen die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie ergriffen. Da die Nicht-Übernahme des EU-Rechtaktes zu einer Beendigung des Assoziierungsabkommens führen kann, ist der Druck, die Richtlinie zu übernehmen relativ hoch. In den letzten zehn Jahren wurden 250 Rechtsakte ins Schweizer Recht integriert, wobei dies meistens reibungslos über die Bühne ging. Das Beispiel der «humanitären Visumserteilung» zeigt zudem, dass der einzelne Mitgliedstaat, hier die Schweiz, bei der Umsetzung über gewisse Freiräume verfügt (Hanke, Wieruszewski und Panizzon 2018).

Schengen/Dublin Assoziierung – eine «partielle» Europäisierung der Schweiz

Während der Gesetzgeber unter Anpassungsdruck steht, erhält die Schweizer Verwaltung, insbesondere das Staatssekretariat für Migration und das Bundesamt für Polizei, in Schengen/Dublin relevanten Fragen ein weitgehendes «Mitspracherecht» in den verschiedenen EU-Ausschüssen und Gremien, die die neuen Rechtsakte ausarbeiten. So kann die Schweiz ihre Positionen einbringen und auf Ausnahmeregelungen hinwirken. Mit Blick auf die EU-Waffenrichtlinie hat z.B. der EU-Ministerrat der Schweiz zugestanden, dass die Ordonnanzwaffen der Militärangehörigen von der Registrierungspflicht ausgenommen bleiben.

Diese enge Anbindung der Schweiz an die europäische Politik zur Wahrung der inneren Sicherheit macht diesen Politikbereich zu einem Labor, in dem die Schweiz erlebt, welche Vor- und Nachteile eine engere Anbindung an Europa mit sich bringt (Wichmann 2009: 654). Die Erfahrungen mit Schengen/Dublin zeigen somit exemplarisch auf, wie sich die dynamische Rechtsübernahme, welche mit dem EU-Schweiz Rahmenabkommen dereinst auf weitere Bereiche ausgedehnt werden soll, auf die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Praxis auswirkt. In diesem Kontext legt diese Blog Serie den Schwerpunkt auf die Dublin Zusammenarbeit und präsentiert Forschungsresultate aus dem nccr – on the move und von anderen SNF geförderten Projekten.

Das Dublin-System unter der Lupe

Mit wenigen Änderungen wurde das Dubliner Übereinkommen 2003 als Dublin II-Verordnung ins EU-Recht überführt. Heute gilt die Dublin III-Verordnung, welche 2013 verabschiedet wurde. Die Dublin-Verordnung setzt sich zum Ziel, dass nur ein einziger Dublin-Staat das Asylgesuch einer schutzsuchenden Person prüft. Es vereinheitlicht weder die Asylverfahren, noch die Vergabe der Schutztitel noch die Aufnahmebedingungen (Unterkünfte etc.) in den Mitgliedstaaten. Dublin ist ein reines Verteilungssystem zwischen Staaten, welches anhand von Kriterien bestimmt, welcher Staat für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig ist (siehe Progin-Theuerkauf in dieser Serie). Während die am System beteiligten Akteure (Kommission, Mitgliedstaaten etc.) sich einig sind, dass es weitgehend gescheitert ist, können sie sich nicht auf eine grundlegende Reform einigen.

Schaut man sich die Verteilung der Asylgesuche in Europa über die letzten zehn Jahre an, zeigt sich tatsächlich, dass die Mitgliedstaaten unterschiedlich viele Asylgesuche prüfen. 2018 in Zusammenarbeit mit GlobalStat erarbeitete Visualisierungen illustrieren, dass in den letzten zehn Jahren einige europäische Staaten, wie z.B. Deutschland oder Schweden, vergleichsweise viele Asylgesuche prüften, während die osteuropäischen Staaten zu wenig Verantwortung übernahmen. Etienne Piguet hat in einem kürzlich erschienen Blog Beitrag dargelegt, wie, unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren, die Asylgesuche in Europa « gerechter» verteilt werden könnten. Seine Berechnungen lassen den Schluss zu, dass gewisse Staaten, etwa Deutschland, Schweden, Österreich oder Belgien, vergleichsweise solidarisch sind, während die osteuropäischen Staaten, Luxemburg, Portugal, Spanien, Irland oder das Vereinigte Königreich zu wenig leisten. In den Visualisierungen des Beitrages zeigt sich auch, dass die Schweiz sich im Mittelfeld bewegt. Betrachtet man hingegen nur die Statistiken zu Dublin, so wird augenscheinlich, dass die Schweiz vom System profitiert, da sie weit mehr Personen an andere Staaten überstellt als sie selbst übernimmt.

Zu dieser Blog Serie

In den folgenden beiden Beiträgen wird Sarah Progin-Theuerkauf erklären, wie der Schengen Raum und das Dublin System funktionieren, während Margarite Zoetewij in ihrem Beitrag auf die fehlende «Gleichwertigkeit» der Asylregelungen in den Mitgliedstaaten hinweist, welche die Funktionsweise des Systems stark beeinträchtigt. Nach einem Exkurs von Marek Wieruszewski zum Konnex von Schengen und der Personenfreizügigkeit wenden sich die Beiträge der Dublin Praxis zu. In einem ersten Text befassen sich Ibrahim Soysüren und Mihaela Nedelcu mit dem Eurodac System, während Lisa Borrelli, Anna Wyss und Tobias Eule die Auswirkungen des Dublin Rechts auf verschiedene Akteure (Nichtstaatliche Akteure, Verwaltung und Migrant*innen) beleuchten. Schliesslich geht Christin Achermann auf die Administrativhaft ein. Im Schlussbeitrag plädieren Philipp Lutz und Stefan Manser-Egli für einen Perspektivenwechsel, indem sie den Flüchtlingsschutz bzw. ein funktionierendes Dublin System als öffentliches Gut darstellen, welches die europäischen Staaten – unter Beteiligung der Schweiz – gemeinsam wahrnehmen sollten.

Nicole Wichmann ist die Geschäftsführerin des nccr – on the move. Sie hat vorgängig am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien als Projektleiterin gearbeitet, wo sie Studien zu Integration, Föderalismus, Diskriminierungsschutz und Menschenrechten durchgeführt hat. In ihrer politikwissenschaftlichen Dissertation hat sie die Anbindung von Drittstaaten an den Europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts untersucht.

Referenzen
– Hanke, Philip, Wieruszweski, Marek & Marion Panizzon (2018). The “spirit of the Schengen rules”, the humanitarian visa, and contested asylum governance in Europe – The Swiss case, Journal of Ethnic and Migration Studies, 1-16.
– Wichmann, Nicole (2009). “More In Than Out”: Switzerland’s Association With Schengen/ Dublin Cooperation, Swiss Political Science Review 15(4), 653–82.

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