UNRWA in der Krise: Die möglichen Folgen des Endes der Schweizer Zahlungen
Der Nationalrat sorgte im September 2024 international für Schlagzeilen, als er entschied, die Schweizer Beiträge an das palästinensische Flüchtlingshilfswerk UNRWA auszusetzen. Einen Monat später erliess das israelische Parlament Entscheide, welche der UNRWA das Ausüben ihres Mandats im Gazastreifen und im Westjordanland ab Anfang 2025 faktisch verunmöglichen könnte. Sollte der Ständerat dem Nationalrat folgen, würde er damit die UNRWA nicht nur finanziell schwächen, sondern auch die Legitimität des UNO-Hilfswerks in einer kritischen Phase grundsätzlich in Frage stellen.
Im Oktober 2024 entschied das israelische Parlament, die Knesset, dem palästinensischen Flüchtlingshilfswerk UNRWA die Tätigkeit auf israelischem Gebiet zu untersagen und verbot den israelischen Behörden jegliche Kontakte mit dem UNO-Hilfswerk. Trotz eines internationalen Aufschreis angesichts der potenziell verheerenden humanitären Folgen für die Bevölkerung in Gaza hat die israelische Regierung seitdem ihren Willen bekräftigt, diese Gesetze Anfang 2025 umzusetzen.
In der Herbstsession hat der Nationalrat drei Motionen zur UNRWA angenommen: einen Antrag zur sofortigen Einstellung der Finanzierung des UNRWA durch die Schweiz, einen Antrag für die Reform des UNRWA und einen Antrag, welcher die Umleitung des vorgesehenen Betrags vorsieht und die palästinensische Zivilbevölkerung ohne Einbezug des UNRWA unterstützen will.
Diese Parlamentsbeschlüsse Israels und der Schweiz erfolgten, nachdem internationalen Medien eine Zusammenfassung eines israelischen Geheimdienstdossiers zugespielt wurden. Gemäss diesem Dossier sollen UNRWA-Mitarbeitende in die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen sein und rund 10 Prozent der Mitarbeitenden Verbindungen zur Hamas oder zum Palästinensischen Islamistischen Dschihad aufweisen. Infolgedessen setzten wichtige Geberstaaten wie die USA, das Vereinigte Königreich und die EU ihre Spenden vorübergehend aus.
Eine daraufhin vom UNO-Generalsekretär eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission erkennt in ihrem Bericht an, dass UNRWA über eine Vielzahl an Massnahmen zur Sicherstellung ihrer Neutralität verfügt, aber benennt auch Reformen, um diese weiter zu stärken. Eine Untersuchung des Office of Internal Oversight Services ergab, dass neun UNRWA-Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis in der Folge beendet wurde, an den Angriffen beteiligt gewesen sein könnten. Allerdings konnte keine der Untersuchungen die Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitern an den Anschlägen beweisen oder die Behauptungen der suggerierten weitläufigen Unterwanderung des UNRWA durch die Hamas bestätigen. In der Folge haben inzwischen alle anderen Geberstaaten, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, ihre Zahlungen fortgesetzt.
Während die endgültige Entscheidung des Schweizer Parlaments über die Einstellung der Finanzierung des UNRWA noch nicht gefallen ist, hat die aussenpolitische Kommission des Ständerates die Entscheidung abermals verschoben, und begründete dies durch die kürzlichen israelischen Entscheide und der Notwendigkeit, zuerst Anhörungen mit entscheidenden Akteuren durchzuführen. Während der Zeitpunkt des Parlamentsentscheids noch offen ist, müsste die UNRWA ihre Aktivitäten in Gaza und im Westjordanland im Januar 2025 einstellen, falls die Knesset-Gesetzgebung umgesetzt wird. Doch welche Folgen hätte die Entscheidung, die Schweizer Finanzierung des UNRWA zu streichen?
Finanzielle Auswirkungen und UNRWA-Finanzierung
Die unmittelbare und direkte Folge einer Streichung der Mittel wäre finanzieller Natur. Aufgrund ihrer Finanzierungsstruktur ist das UNRWA dabei besonders empfindlich auf politische Schwankungen in den Geberstaaten. Das Budget des Hilfswerks besteht fast vollständig aus freiwilligen Beiträgen der Geberstaaten (95% im Jahr 2022), wobei mehr als die Hälfte dieser Beiträge jährlich erneuert werden müssen. Diese Finanzierung mag erklären, warum UNRWA nach dem Rückzug mehrerer wichtiger Geberländer zu Beginn des Jahres erklärte, dass innerhalb eines Monats alle Aktivitäten eingestellt werden müssen.
Die Schweiz ist seit jeher eine wichtige Beitragszahlerin für das UNRWA. Seit den 1950er Jahren hat die Schweizerische Eidgenossenschaft in Anerkennung der humanitären Rolle des Hilfswerks Geld- und Sachspenden an das Hilfswerk geleistet. Von 1990 bis 2022 machen die Schweizer Beiträge durchschnittlich 2,5% der gesamten staatlichen Spenden aus und erreichen im Jahr 2022 rund 25 Millionen USD. Gemessen an der Summe der Beiträge seit 1990 liegt die Schweiz damit weltweit auf dem zehnten Platz der Geberländer, noch vor Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien.
Abbildung 1: Gesamtspenden an das UNRWA (die 20 wichtigsten Geberländer, 1990-2022)
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Autor*innen
Abbildung 2: Staatliche Spenden nach Jahr: Schweiz, USA und andere Beiträge
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Autor*innen
Bestätigt der Ständerat den Beschluss, die Schweizer Unterstützung für das UNRWA zu streichen, hätte dies zur Folge, dass das Gesamtbudget von UNRWA für 2024 um weitere 10 Millionen Schweizer Franken gekürzt würde. Damit wäre die Schweiz das erste Land, welches eine solche Kürzung vornehmen würde, nachdem die Knesset die UNRWA-Aktivitäten in Gaza und im Westjordanland zu verunmöglichen beabsichtigt. Entsprechend könnte dies auch ein Signal für andere wichtige Geberstaaten sein, dem Schweizer Beispiel zu folgen. Diese Entscheidung kommt zu einem kritischen Zeitpunkt. Schliesslich ist höchst ungewiss, ob die neue Trump-Administration, welche den wichtigsten Geber des UNRWA repräsentiert und bereits zwischen 2018 und 2020 deren Hilfsgelder gestrichen hat, eine zuverlässige Unterstützerin sein wird.
Von einer drohenden Legitimationskrise zu einer existenziellen Bedrohung
Ungeachtet der finanziellen Folgen stellen die parlamentarischen Vorstösse die Legitimität des UNO-Hilfswerks insgesamt in Frage. Denn trotz bestehender Kritik wird das UNRWA als Flüchtlingshilfswerk in Gaza und im Westjordanland weithin als alternativlos angesehen. Das Votum des Schweizer Parlaments, die Zahlungen an das UNRWA einzustellen oder umzuleiten, signalisiert daher einen klaren Politikwechsel.
Die Annahme der genannten Motionen hat aber nicht nur für die UNRWA Konsequenzen, sondern könnte auch dem Ruf und der Glaubwürdigkeit der Schweiz auf der internationalen Bühne schaden. Mit dem Einstellen der Zahlungen würde sich die Schweiz als historisch bedeutsame und zuverlässige humanitäre Akteurin zur Anführerin jener machen, welche dem von einem Schweizer geführten UNO-Hilfswerk die Unterstützung entziehen. Dabei könnte sich die Schweiz mit der Verweigerung der weiteren Unterstützung bald allein neben der neuen Trump-Administration einreihen. Die Alternative, das UNRWA durch andere humanitäre Akteure wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu ersetzen, erscheint unwahrscheinlich: Beide Organisationen haben wiederholt erklärt, das UNRWA nicht ersetzen zu können.
Ohnehin liegt die Ersetzung des UNRWA durch einen anderen humanitären Akteur weder im Gestaltungsbereich noch der Kompetenz der Schweizer Diplomatie. Da die UNO-Generalversammlung das UNRWA-Mandat erteilt hat, würde die Aufhebung des Mandats und die Ersetzung desselben eine erneute Abstimmung im selben Gremium erfordern. Deshalb würde die unilaterale Streichung der Unterstützung wohl einzig dazu führen, dass den palästinensischen Flüchtlingen essenzielle humanitäre Hilfe vorenthalten wird. Ein solcher Schritt würde entsprechend auch die humanitäre Tradition der Schweiz und ihr Engagement für den Multilateralismus untergraben.
Zwischen humanitärer und politischer Krise
In Anbetracht des Beschlusses der Knesset, die Arbeit des Palästinenserhilfswerks in Gaza und im Westjordanland faktisch zu verunmöglichen und in Angesicht der zweiten Trump-Regierung, die bereits in ihrer ersten Amtszeit Desinteresse am UNO-System und am UNRWA bewiesen hat, ist es ungewiss, was die Aufrechterhaltung der staatlichen Beiträge für das UNRWA in einer Zeit der existenziellen Krise bedeuten würde. Mit der Streichung der Mittel für das UNRWA würde das Schweizer Parlament hingegen die finanzielle Stabilität und die Legitimität des Hilfswerks schwächen, und dadurch zu einer Entwicklung beitragen, welche die Einsatzfähigkeit des Hilfswerks zu einem Zeitpunkt bedroht, in dem es am stärksten benötigt wird.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von DeFacto am 2.12.2024 veröffentlicht und an das Blog-Format des nccr – on the move angepasst.
Maud Bachelet ist Doktorandin an der Universität Genf und forscht zu den politischen Aspekten der Lastenteilung in der EU.
Philipp Lutz ist Senior Researcher an der Universität Genf und Assistenzprofessor an der Vrije Universiteit Amsterdam. Er leitet das SNF-Ambizione-Projekt „Connecting Countries and Dividing People. The Politics of Burden-Sharing in European Migration Governance.“
Frowin Rausis ist Postdoktorand an der Universität Genf.
Alle drei Autor*innen sind assoziierte Forschende im nccr – on the move-Projekt „ The Impact of Crises on the Global Governance of Migration.“
Anmerkung:
Die Daten zur UNRWA-Finanzierung sind Teil eines grösseren Datensatzes der Autor*innen zur Finanzierung der UN-Flüchtlingsorganisationen zwischen 1990 und 2022.
Referenz:
Rausis, F., Bachelet, M., & Lutz P. (2024). UN refugee agencies: vulnerable funding structures and a looming legitimacy crisis. Forced Migration Review.