Das Dublin-System
Falls die Waffenrichtlinie im Mai 2019 durch das Schweizer Stimmvolk abgelehnt wird, drohen die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen wegzufallen, da beide durch eine Guillotineklausel verbunden sind. Könnte sie sich nicht weiter an der Dublin-Zusammenarbeit beteiligen, hätte dies für die Schweiz grosse Nachteile. Was genau steckt eigentlich hinter dem Dublin-System?
Das Dublin-System wurde 1990 von den damals zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft errichtet. Seine Rechtsgrundlage war zunächst ein völkerrechtlicher Vertrag, das Dubliner Übereinkommen („Dublin I“). Mit wenigen Änderungen wurde es 2003 zu einer Verordnung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft (Dublin-II-Verordnung). Seit 2008 ist die Schweiz an das Dublin-System assoziiert. 2013 wurde der Rechtsrahmen des Dublin-Systems zuletzt angepasst; nunmehr gilt die Dublin-III-Verordnung.
Ziel und Zweck des Dublin-Systems
Das Dublin-System möchte zwei Phänomene bekämpfen: Zum einen das «asylum shopping», also das Aussuchen des besten Asylstaates und das Stellen mehrerer paralleler oder aufeinanderfolgender Asylgesuche, zum anderen aber auch das Phänomen der «refugees in orbit», das heisst von Flüchtlingen, für deren Asylgesuch sich kein Staat als zuständig erachtet. Im Dublin-System ist immer (nur) ein Staat für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig («one chance only»). Es ist ein reines Verteilungssystem zwischen Staaten – unabhängig von den Wünschen der betroffenen Person – , das auf einem (modifizierten) Verantwortungsgrundsatz beruht: Derjenige Staat, der die erstmalige Einreise des Asylgesuchstellers in das Gebiet der EU zu verantworten hat, ist in der Regel auch für die Prüfung seines Asylgesuchs zuständig.
Achtung: Der Asylantrag ist nur in wenigen Fällen der Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit eines Staates für die Prüfung. „Shopping“ soll ja gerade vermieden werden.
Ein Beispiel: Der Drittstaatsangehörige A reist in Italien erstmals (illegal) in die EU ein, man nimmt ihm seine Fingerabdrücke. Er stellt dort keinen Asylantrag, sondern reist unverzüglich weiter nach Österreich und anschliessend nach Deutschland. In Deutschland stellt er einen Asylantrag. Italien ist für das Asylverfahren zuständig, da A hier erstmals über eine Aussengrenze in die EU eingereist ist.
Eine materielle Harmonisierung der Asylgesetze in den Mitgliedstaaten verlangt das Dublin-System nicht. Es beruht aber auf der Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten des Systems «sicher» und ihre nationalen Asylregelungen «gleichwertig» sind (siehe dazu der Beitrag von Zoeteweij und Römer in dieser Serie). Um gemeinsame Standards im Asylbereich zu schaffen, hat die EU im Laufe der Zeit eine Reihe von Richtlinien erlassen, die aber für die Schweiz nicht bindend sind.
Die Ermittlung des für einen Asylantrag zuständigen Staates
Stellt eine drittstaatsangehörige Person in einem Dublin-Mitgliedstaat einen Asylantrag, wird nach einer festgelegten Rangfolge von Kriterien der zuständige Staat für die Prüfung dieses Asylgesuchs ermittelt. Ein negatives «Sich-für-unzuständig-Erklären» ist nicht vorgesehen; es ist immer ein bestimmter Staat zuständig. In dieser Reihenfolge werden die folgenden Punkte geprüft:
– Bei Minderjährigen der Aufenthalt von Familienangehörigen; ohne Familienangehörige ist der Staat zuständig, in dem der Minderjährige sein (letztes) Asylgesuch gestellt hat und wo er sich aktuell befindet.
– Bei Volljährigen der Aufenthalt von Familienangehörigen (hier wird ein engerer Familienbegriff zugrunde gelegt).
– Die Einreise mit Visum oder das Vorliegen eines Aufenthaltstitels in einem Mitgliedstaat (auch abgelaufen).
– Die illegale Einreise oder ein mindestens 5-monatiger illegaler Aufenthalt.
– Eine visafreie Einreise.
– Ein Asylantrag im Transitbereich eines Flughafens.
Das «Durchwinken» bzw. «Durchreisenlassen» von Flüchtlingen ist kein Kriterium, aus dem eine Zuständigkeit erwächst. D.h. im oben genannten Beispielsfall ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit Österreichs, sofern sich A dort kürzer als 5 Monate aufgehalten hat.
In der Realität wird meist der Staat zuständig, in dem der oder die Asylsuchende erstmalig illegal über eine Dublin-Aussengrenze in den Dublin-Raum eingereist ist. Damit sind es die Länder an den Aussengrenzen der EU, die für die Prüfung der meisten Asylgesuche zuständig sind; in erster Linie also Griechenland und Italien. Das System ist somit sehr unausgewogen und bevorteilt die Länder im Zentrum Europas ohne EU-Aussengrenzen. Eine «Lastenverteilung» innerhalb der EU ist nicht vorgesehen. Es besteht aber für die betroffenen Staaten die Möglichkeit, einen kleinen finanziellen Ausgleich über den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds zu erhalten.
Die Prüfung des Asylgesuchs in der Realität
Nach Ermittlung des zuständigen Staates fragt der Staat, in dem sich der oder die Asylsuchende befindet, den eigentlich zuständigen Staat an, ob dieser die entsprechende Person aufnimmt – oder, wenn bereits ein Asylverfahren im Gang ist, wieder aufnimmt. Der ersuchte Staat muss innerhalb einer festgesetzten Frist antworten, sonst wird er automatisch zuständig. Der oder die Asylsuchende muss sodann innerhalb von sechs Monaten in den zuständigen Staat überstellt werden, sonst wird der überstellende Staat zuständig. Das System sieht also als «Strafe» für eine versäumte Frist die Übernahme der Zuständigkeit für das Asylverfahren vor. Erst nach der Überstellung in den zuständigen Staat beginnt das materielle Asylverfahren. Die verpasste Frist führt zu einer automatischen Zuständigkeit des entsprechenden Staates, auf die sich die Asylsuchenden auch berufen können.
Bei «systemischen Schwachstellen» im eigentlich zuständigen Staat kann von der Überstellung abgesehen und ein anderer zuständiger Staat ermittelt werden. Dennoch kann aufgrund seiner Souveränität jeder Staat unabhängig vom tatsächlich zuständigen Staat das Asylgesuch selbst prüfen und damit das Asylverfahren übernehmen. Das Dublin-System wird also nicht verletzt, wenn ein nicht zuständiger Staat Asylgesuche prüft, für die eigentlich ein anderer Staat zuständig wäre.
Tatsächlich werden viele Asylsuchende nicht in den eigentlich zuständigen Dublin-Staat überstellt, weil die Anfragefrist abgelaufen oder es nicht möglich ist, die Überstellung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten zu realisieren, wie es die Dublin-Verordnung vorschreibt. De facto ist der Verwaltungsaufwand (und damit die Kosten) für das Betreiben des Dublin-Systems sehr hoch und es bringt nur wenig Nutzen. Die Schweiz allerdings gehört zu den «Netto-Gewinnern»: Sie überstellt mehr Personen, als sie erhält.
Idealerweise würde das Dublin-System durch einen – wie auch immer ausgestalteten – Verteilschlüssel oder ein System von finanziellen Anreizen für die Aufnahme von Flüchtlingen ersetzt. Der Vorschlag für eine Neufassung der Dublin-III-Verordnung („Dublin IV“), den die Kommission 2016 veröffentlicht hat, geht allerdings in eine völlig andere Richtung; er würde die bestehenden Probleme eher verschärfen und auch den umstrittenen EU-Türkei-Deal zementieren. Aktuell gibt es innerhalb der EU jedoch keinen Konsens, wie die Zukunft des Dublin-Systems aussehen könnte. Für die Schweiz ist dies gut, da sie durch das aktuelle System bevorteilt wird. Dieser Nutzen könnte bei einer Ablehnung der EU-Waffenrichtlinie dahinfallen.
Sarah Progin-Theuerkauf ist ordentliche Professorin für Europarecht und europäisches Migrationsrecht an der Universität Freiburg. Sie hat in Phase I des nccr – on the move das Projekt The Emergence of a European Law on Foreigners geleitet.
Dieser Blog Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des nccr – on the move Blog Beitrags «Das Dublin-System» von Sarah Progin-Theuerkauf vom 21. April 2016.