Das neue linke Nationalgefühl gefährdet die Migrationsgesellschaft
Eine besonders wichtige Feststellung zur Migrationspolitik (und -forschung) ist der Umstand, dass sie stets an die Vergegenwärtigung von politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungslinien gebunden ist. Nicht in vacuo, im luftleeren Raum, kann sie begriffen werden, sondern einzig vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konfliktlagen und kollidierender Interessen, die in modernen Industriestaaten zumeist den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Positionen annehmen.
Gerade für die Beantwortung migrationspolitischer Fragestellungen bieten diese Kategorien, trotz einiger bestehender Schwächen, noch immer eine gewisse Grundorientierung: Vereinfacht gesagt steht rechts hier vor allem für Politiken der Exklusion und links für jene der Inklusion, rechts für die Beschneidung der Ansprüche von Migrant*innen und links für deren kontinuierliche Erweiterung, rechts für Leitkultur und Top-Down-Steuerung und links für einen Egalitarismus auf multikultureller Grundlage.
Soweit zumindest die Annahmen, an denen sich die politische Debattenlandschaft der letzten Jahre und Jahrzehnte massgeblich ausgerichtet hat. In Zeiten fragmentierter Parteienordnungen und vom Grossnarrativ einer transnational-populistischen Revolte verunsicherter Gesellschaften verschieben sich diese aber zusehends: Auf der Rechten werden sie mehr und mehr mit toxischen Ressentiments aufgeladen, die von verkappter Fremdenfeindlichkeit bis hin zu gewalttätigem Rassismus reichen. Auf der Linken entwickelt sich demgegenüber der beunruhigende Trend, diesem Rechtsruck nicht etwa mit Abgrenzung, sondern mit Appeasement zu begegnen und dabei vor allen Dingen die Nation als schützendes Behältnis vor den vermeintlichen Wirrungen der Postmoderne wiederzuentdecken.
Begleitet wird diese Form der Rückbesinnung von einer ganzen Reihe an Professoren, Publizisten und Public Intellectuals, von denen nicht wenige mit auffälligem Eifer zu Werke gehen. Da ist zum Beispiel Francis Fukuyama (2019), der inzwischen das Feld der kulturellen Identität für sich entdeckt hat und in seinem jüngsten Werk für “nationale Bekenntnisidentitäten“ (s. 195) plädiert. Oder David Goodhart (2017), der erfolgreich die Idee eines Metakonflikts zwischen Somewheres (sicherheitsorientierten Ortsgebundenen) und Anywheres (mobilen Kosmopoliten) in die Gegenwartsdiagnostik eingeführt hat. Und auch im deutschsprachigen Raum gibt es mit Michael Bröning (2018) und seinem Lob der Nation einen prominenten Befürworter der linken Nationalrenaissance.
Für diese und andere Anhänger der Nation steht dabei in der Regel nicht das Streben nach unbedingter Abschottung im Fokus, sondern der Wunsch nach möglichst klaren Verhältnissen. Es geht darum, bestehende gesellschaftliche Ambivalenzen zu reduzieren und auf dem Feld der Parteipolitik zudem auch eine Antwort auf den grenzüberschreitenden Abstieg der Sozialdemokratie und das allmähliche Verblassen der sozialen zugunsten einer kulturell-identitären Frage zu finden. In beiden Fällen ist der verbissene Rekurs auf die Nation aber kaum die geeignete Antwort; stattdessen ist er in hohem Mass problematisch.
So ignoriert er etwa den Befund, dass die zentrale Solidaritätsproblematik unserer Zeit im massiven Auseinanderdriften von Lebenschancen weltweit besteht. Durch die Fixierung auf das Nationale wischt man die politische Dringlichkeit der Bekämpfung dieser Ungleichheit beiseite und setzt sie gegenüber subjektiven Deprivationserfahrungen von im globalen Vergleich noch immer privilegierten Bevölkerungsgruppen (die aber der Nation angehören) zurück. Dabei auftretende Widersprüche übersieht man geflissentlich; zum Beispiel das Paradoxon, dass der national turn einerseits als linke Abwehrmassnahme gegen die Logik des Neoliberalismus angepriesen wird, während er andererseits mit immer restriktiveren Migrationsregimen und strengeren Selektionskriterien das zutiefst neoliberale Streben nach Maximierung menschlichen Produktivpotentials zur migrationspolitischen Leitlinie erhebt.
Noch gravierender sind indes die Folgen für die politische Praxis, wo nicht weniger als die Idee einer auf Offenheit gründenden Migrationsgesellschaft durch friendly fire unter Beschuss genommen wird. Denn abseits der Feuilletons funktioniert der Verweis auf die Nation auch heute noch vor allem durch Formen von Ausgrenzung und Scapegoating, bei denen das Individuum nur als Teil eines imaginierten Kollektivs Anerkennung findet. Ethnische und kulturelle Hierarchien werden in der Folge reproduziert, die legitimen Anliegen von Migrant*innen und Geflüchteten dagegen nur allzu häufig als ausserhalb des nationalen Interesses stehend zurückgewiesen oder als nicht-prioritär abgetan. Mit dem Feuer der Nation zu spielen bedeutet daher immer auch das Risiko einzugehen, diejenigen, die ohnehin am meisten unter einer strukturell ungerechten Wirtschafts- und einer strukturell rassistischen Gesellschaftsordnung zu leiden haben, auf dem Altar des öffentlichen Vorurteils zu opfern.
Dabei deutet nur wenig darauf hin, dass nationale Bezugsrahmen mehr Gräben zuzuschütten vermögen als anderswo neu durch sie aufgerissen werden. Deutlich vielversprechender erscheinen da schon progressive Politikansätze, wie sie derzeit auf politische Ebene vor allem von einigen grünen Parteien vertreten werden: Ein eindeutiges Bekenntnis zur Migrationsgesellschaft ohne Bedenkenträgerei, repetitive Integrationsdebatten oder absurde Anbiederungsversuche bei Wutbürger*innen und Rechtssympathisant*innen jedweder Couleur. Ein Politikstil, der trans- und postnationale Möglichkeitsräume nutzt und längst überfällige Debatten über die moralische Notwendigkeit globaler Freizügigkeit (z.B. Carens 1987; Cassee 2016) führt. Und ein Denken, das zwischen Staat und Nation zu trennen versteht, anstatt beides unentwegt als ewige Einheit zu begreifen. Doch selbst wenn man nicht all diesen Punkten zustimmen möchte: Die mehr oder weniger explizite Botschaft, dass linke Politik (in Migrationsfragen wie auch darüber hinaus) primär der Legitimation nationaler Besitzstandswahrung zu dienen habe, kann jedenfalls kaum der Weisheit letzter Schluss sein.
Marco Bitschnau ist Doktorand im nccr – on the move im Projekt Mobility, Diversity, and the Democratic Welfare State: Contested Solidarity in Historical and Political Comparative Perspective an der Universität Neuchâtel.
Referenzen
– Bröning, M. (2018). Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. Bonn: Dietz.
– Carens, J. H. (1987). The Case for Open Borders. Review of Politics 49(2), 251-273.
– Cassee, A. (2016). Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen. Berlin: Suhrkamp.
– Fukuyama, F. (2019). Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg: Hoffmann & Campe. [Original: Fukuyama, F. (2018). Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. New York, NY: Farrar, Straus & Giroux].
– Goodhart, D. (2017). The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London: Hurst & Co.