Debatte zum UN-Migrationspakt: Versuch einer Nachlese
Kaum ein migrationspolitisches Thema hat die Öffentlichkeit in letzter Zeit so sehr erregt, wie der kürzlich in New York verabschiedete Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (GCM). Doch während alle Welt über den (wenig überraschenden) Inhalt des Paktes diskutiert, kommen kritische Anmerkungen zu den Konturen eben dieser Diskussion, ihren Annahmen und ihren Implikationen häufig zu kurz. Dazu vier knappe Beobachtungen in Thesenform.
1: Falsche Erwartungen
Auch nach seiner Verabschiedung kommt dem GCM in erster Linie ein symbolischer Wert zu, eine Einsicht, die sowohl bei Kritiker*innen wie auch bei Sympathisant*innen für ein gewisses Unbehagen sorgt. Die einen vermuten hinter der rechtlichen Unschärfe und dem deklarativen Charakter des Dokuments eine tückische Finte von Globalist*innen und anderen Befürworter*innen grenzüberschreitender Migrationsregime, die anderen sehen darin eher ein Zeichen von Schwäche und struktureller Ohnmacht. Beide Seiten verkennen indes, dass Verhandlungen auf UN-Ebene häufig weniger der konkreten Lösungsfindung dienen, als vielmehr einer spezifischen Form von Bedeutungs- und Wahrnehmungsproduktion. Dem Symbolischen kommt dabei nicht etwa eine marginale, sondern eine essentielle Rolle zu: Symbole können Diskurse anregen, abbrechen und gänzlich neu akzentuieren; sie können Kontinuitäten abbilden und Brüche betonen; sie können Einigkeit oder Uneinigkeit manifestieren und Veränderungswillen dauerhaft sichtbar machen. Nicht anders verhält es sich mit dem GCM, der immerhin schon jetzt eindrucksvoll aufzeigt, dass das – wie Peter Sloterdijk sagt – „Megathema“ inzwischen in der „Champions League“ des globalen Problembewusstseins mitspielt.
2: Verengte Blickfelder
Trotz dieser symbolischen Strahlkraft muss unterstrichen werden, dass die Berichterstattung und Diskussion über den GCM hierzulande recht stark an einer einseitig eurozentrischen (respektive westlichen) Perspektivenverzerrung krankt. Dabei wird Migration überwiegend als monodirektionale Bewegung von Menschen entlang einer imaginären Süd-Nord-Achse wahrgenommen, aus der sich für die Gesellschaften des Nordens eine Vielzahl an Schwierigkeiten kultureller, sozialer und ökonomischer Natur ergibt. Bekannt ist dieses populär-populistische Narrativ eigentlich als typische Rechtsaußenpositionierung zu Flucht und Vertreibung. Mit dem GCM findet es aber eine geeignete Plattform, um Migrationsthematiken zu überformen und begriffliche Grenzen weiter zu verwischen. So werden zum einen herabwürdigende und rassistische Behauptungen über Geflüchtete pauschal auf die Gesamtheit der Migrant*innen übertragen und zum anderen Migrationsphänomene mit Fluchtphänomenen gleichgesetzt und in ihrer Problematisierung europäisiert. Dass der GCM aber gerade ein „Global“ und kein „European“ Compact sein möchte (und schon gar nicht ein westliches Mobilitätsdiktat) wird hingegen ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass Migrant*innen im 21. Jahrhundert nicht nur das Stadtbild von Berlin oder Stockholm prägen, sondern auch das von Bamako oder Manama. Damit bestätigt sich in der GCM-Debatte leider erneut, was progressive Politiker*innen und Wissenschaftler*innen schon seit langem als Kernproblem in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Migrationsfragen identifiziert haben: Der Verzicht auf differenzierte Analysen zugunsten eines steten Strebens nach der Aufrechterhaltung hegemonialer Ausgrenzungsstrukturen.
3: Populistische Halberfolge
Dieser Problematik und der vielerorts zunehmend migrationsfeindlichen Stimmungslage zum Trotz ist es Rechtspopulist*innen weltweit nur sehr vereinzelt gelungen aus der Skandalisierung des GCM politisches Kapital zu schlagen oder gar seine Annahme zu blockieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben sich insbesondere auch zahlreiche Schlüsselstaaten globaler Wanderungsdynamiken (u.a. Schweden, Mexiko, Russland, die Golfmonarchien und Kanada) klar zustimmend zum Pakt positioniert und selbst nördlich des Bodensees, wo die selbsterklärte Alternative für Deutschland (AfD) mit der kruden Migrationsmythologie eines angeblichen Rechtsbruchs der Kanzlerin um Stimmen buhlt, ist die parlamentarische Debatte am Ende ohne größeren Effekt verpufft. Vielleicht waren die offenherzigen Behauptungen der AfD, es handele sich beim GCM um ein „verstecktes Umsiedlungsprogramm für Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge“ (Punkt 3) mitsamt einer klaren „Aufnahmepflicht, für alle die behaupten, Opfer des Klimawandels zu sein“ (Punkt 5) sogar für die leicht erregbare deutsche Öffentlichkeit eine Spur zu absurd. Anders verhält es sich freilich mit dem immer erratischer und irrationaler auftretenden Österreich und leider auch mit der Schweiz, in der souveränistische Argumentationslinien ein deutlich stärkeres Gehör im Diskursmainstream finden und das vorbildliche Schweizer Engagement während der einzelnen Verhandlungsrunden entwerten.
4: Ist denn heute alles gespalten?
Das bloße Faktum, dass sich einige Staaten – oder besser gesagt deren Regierungen – ablehnend bis neutral zum GCM positioniert haben wird natürlich auch gerne genutzt, um das nicht aus der Mode kommende Schreckgespenst einer schädlichen und andauernden Spaltung von Politik und Gesellschaft an die Wand zu malen. Das ist schon an sich problematisch, denn erstens postuliert diese Spaltungsdiagnose, dass allein schon der offene Diskurs über die Anliegen von Migrant*innen sozialen Unfrieden und Streit stifte und daher nach Möglichkeit begrenzt werden müsse, zweitens suggeriert sie, dass jeder noch so oberflächliche Konsens einer produktiven Artikulation gesellschaftlicher Interessenskonflikte, sozialer Antagonismen und realer Ungerechtigkeiten vorzuziehen sei. Im Kontext der GCM-Debatte kommt aber darüber hinaus noch eine weitere, eine explizit delegitimierende Dimension von Spaltung zum Tragen, indem gezielt der Eindruck erweckt wird, dass die internationale Staatengemeinschaft in zwei mehr oder weniger ebenbürtige Lager aus Befürworter*innen und Gegner*innen zerfällt: Es existiert also eine Art „Großen Graben“ auf weltpolitischer Bühne, nur, dass sich dort statt Griesgramix und Grobianix eben Sebastian Kurz und Justin Trudeau gegenüberstehen. Ein schönes Bild, das aber nur wenig mit jener Realität gemein hat, in der sich bis auf eine sehr überschaubare Anzahl Skeptiker*innen, Opportunist*innen und Autoritärer kaum jemand gegen das Vertragswerk aussprechen wollte: Bei der Abstimmung vom 19. Dezember waren es gerade einmal fünf UN-Mitglieder bei zwölf weiteren Enthaltungen. Auf der anderen Seite war eine überragende Mehrheit von 152 Staaten im Lager der Befürworter angesiedelt, was schon aus rein numerischen Gründen weniger für eine echte Spaltung spricht, als vielmehr für eine eng begrenzte und lokal gebündelte Minderheitenopposition. Analysen zum GCM sollten sich nicht zuletzt auch dieser Tatsache bewusst sein – und den Panikregulator nach Möglichkeit zurückdrehen.
Marco Bitschnau works as a doctoral student in the research project “Mobility, Diversity, and the Democratic Welfare State: Contested Solidarity in Historical and Political Comparative Perspective”.