Der erste «internationale Tag für das Wahlrecht für alle Einwohner*innen»
Die internationale Mobilität führt dazu, dass ein wachsender Anteil der Wohnbevölkerung in Europa kein Wahlrecht hat. Dieser Blogbeitrag stellt europäische Initiativen vor, die sich angesichts dieses demokratischen Defizits für inklusivere politische Rechte einsetzen. So fand etwa am 26. April 2021 der erste internationale «Tag für das Wahlrecht für alle» statt, organisiert vom neu gegründeten Netzwerk ‘Voting Rights for ALL Residents’ (VRAR).
Ein Blick auf die Geschichte der politischen Partizipation zeigt, dass Bürgerrechte immer wieder verhandelt und erkämpft wurden und sich im Laufe der Zeit stark verändert haben. Gerade in der Schweiz wurde das Stimm- und Wahlrecht nur schrittweise auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. Eine grosse Ungleichheit herrschte lange insbesondere in Bezug auf das Frauenstimm- und Wahlrecht, welches erst vor 50 Jahren, im Jahr 1971, nach einem langen Kampf eingeführt wurde. Weitet man den Fokus auf die Gegebenheiten in unterschiedlichen europäischen Ländern aus, wird ersichtlich, dass vielerorts auch 2021 immer noch ein grosser Teil der Wohnbevölkerung von politischen Entscheidungen ausgeschlossen wird.
Hier lebe ich, hier wähle ich – oder doch nicht?
Heutzutage bewegen sich immer mehr Menschen über nationale Grenzen hinweg, sei es aus beruflichen Gründen, aufgrund von Familiennachzug, Fluchtmigration oder um eine Ausbildung zu absolvieren. Obwohl Mobilität alltäglich geworden ist, sind die politischen Rechte in vielen Ländern immer noch an die Nationalität gebunden und werden als exklusives Privileg der Staatsbürger*innen erachtet. Auch wenn durch die EU-Gesetzgebung bereits 1992 das Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Bürger*innen anderer EU-Staaten eingeführt wurde, gewähren aktuell nur 14 der insgesamt 27 EU-Staaten Nicht-EU-Staatsangehörigen ein lokales Wahlrecht. Rund 22 Millionen aus nicht-EU Ländern stammende Menschen sind von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Der demokratische Grundsatz ‘hier lebe ich, hier wähle ich’, wie ihn Wahlrechtsinitiativen beanspruchen, wird somit für einen wachsenden Anteil der Wohnbevölkerung in der EU nicht gewährleistet.
Auch am Beispiel der Schweiz lässt sich die Dringlichkeit einer Veränderung veranschaulichen. Denn in der Schweiz besitzt ein Viertel der Wohnbevölkerung kein Stimm- und Wahlrecht, das sind über 2 Millionen Menschen, Tendenz steigend. In Basel und Genf sind es über 30% der Wohnbevölkerung, die von der politischen Partizipation ausgeschlossen sind und in manchen Gemeinden, wie z.B. in Schlieren machen die Stimm- und Wahlberechtigten sogar weniger als die Hälfte der Wohnbevölkerung aus.
Die vielen Hürden auf dem Weg zur Einbürgerung
Traditionell gilt die Einbürgerung immer noch als der einzige Weg, Teil der politischen Gemeinschaft zu werden. Entsprechend wird oft argumentiert, dass ein inklusiveres Wahlrecht den Anreiz zur Einbürgerung und Integration verringern würde.
Aber ist das tatsächlich der Fall? Der Prozess der Einbürgerung ist voller Hindernisse. Dazu gehören nicht nur hohe Kosten, sondern auch erschwerende Bedingungen wie eine bestimmte Aufenthaltsdauer am Wohnort, die nicht zuletzt dem Trend zunehmender und oft temporärer Mobilität zuwiderlaufen. Des Weiteren kann Menschen auch eine Einbürgerung verwehrt bleiben, wenn ihre angestammte Nationalität eine Doppelbürgerschaft verunmöglicht. Andererseits erfolgt Integration auch über eine Auseinandersetzung mit der lokalen oder nationalen Politik des jeweiligen Aufenthaltslandes – unabhängig von der Nationalität.
Insbesondere in Ländern mit zunehmender Migration und einem aufwändigen Einbürgerungsverfahren macht eine Bindung des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft deshalb wenig Sinn. Politische Rechte sollten nicht an die Staatsangehörigkeit geknüpft sein, dieser Meinung sind auch die aktivistischen Gruppen, die sich für ein inklusives Wahlrecht für die gesamte Wohnbevölkerung einsetzen.
Das Netzwerk ‘Voting Rights for ALL Residents’ (VRAR)
Wie lang und steinig jedoch der Weg zur Einführung des Stimm- und Wahlrechts für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe sein kann, wird am Beispiel des Frauenstimmrechts in der Schweiz ersichtlich. An diesem historischen Ringen um politische Partizipation inspirieren sich derzeit Gruppen in mehreren europäischen Ländern (Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland, Belgien und der Schweiz), die sich für ein – nicht an die nationale Staatsbürgerschaft gebundenes – Wahlrecht für alle Einwohner*innen einsetzen. Die Initiativen fordern nicht nur ein inklusiveres lokales oder regionales Wahlrecht für die jeweilige Wohnbevölkerung, sondern vertreten auch ein neues Verständnis von Bürgerschaft, das alle an einem Ort wohnenden Menschen einschliesst. Mit dem Netzwerk ‘Voting Rights for ALL Residents’ (VRAR) gründeten sie im April 2020 eine europäische Plattform für den Wissens- und Erfahrungsaustausch.
VRAR hat am 26. April 2021 zum ersten Mal einen internationalen Aktions- und Gedenktag für das Wahlrecht für alle, mit einer Abendveranstaltung in vier Sprachen, organisiert. An dieser Veranstaltung wurde deutlich, wie wichtig aktivistische Bürger*innen im Kampf um inklusivere Wahlrechte sind. Sie investieren Zeit, professionelle und persönliche Fähigkeiten und Erfahrungen und bringen ihre sozialen Netzwerke und finanzielle Mittel ein. Die zumeist ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Initiativen engagieren sich, um dem Demokratie-Defizit entgegenzuwirken und durch Aktionen und symbolische Wahlen den politischen Stimmen von Menschen ohne Wahlrecht Gehör zu verschaffen. Des Weiteren betreiben sie Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit, damit auch die Menschen mit Stimm- und Wahlrecht auf die ungleich verteilte politische Mitbestimmung aufmerksam werden.
Wir argumentieren, dass es an der Zeit ist, die Grundsätze der Demokratie für alle Einwohner*innen zu gewährleisten, die politischen Rechte unter Berücksichtigung der steigenden Mobilität, Migration und Globalisierung inklusiver zu gestalten und das Verständnis von Bürgerschaft an die transnationalen Gegebenheiten anzupassen. Dabei ist es wichtig, die politische Partizipation aller zu fördern, um die Legitimation der Demokratie zu gewährleisten. Denn alle Menschen, die an einem bestimmten Ort wohnen und den Entscheidungen des entsprechenden Staates unterworfen sind, sollten auch ein Mitspracherecht in diesem Staat haben.
Dieser Blogbeitrag basiert auf dem Policy Brief “kurz und bündig” #20 von Katrin Sontag und Selina Reusser zu den aktuellen Forderungen nach inklusiveren Wahlrechten in Migrationsgesellschaften (auch online in EN und FR).
Selina Reusser absolviert an der Universität Basel den interdisziplinären Masterstudiengang ‘Changing Societies: Migration – Conflict – Change’ und beschäftigt sich seit Beginn des Studiums mit Themen wie Demokratie (Defizit), inklusivere Stimm- und Wahlrechte und der Rolle von aktivistischen Bürger*innen.
Katrin Sontag ist Kulturanthropologin an der Universität Basel und PostDoc im NCCR-Projekt Perimeters of Multilayered Democratic Citizenship in a Mobile and Multicultural World.
Literatur:
– Non-Citizen Voting Rights: A New European Network, nccr – on the move blog (18.08.2020).
– Voting Rights – A Question of Nationality or Residence, nccr – on the move blog (10.01.2019).