Der Schengen-Raum
Am 19. Mai 2019 entscheidet das Schweizer Stimmvolk zum zweiten Mal über eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes. Zur Diskussion steht eine Anpassung des Schweizer Rechts an die EU-Waffenrichtlinie. Eine Ablehnung durch das Schweizer Stimmvolk könnte zu einem Wegfall des Schengen-Assoziierungsabkommens führen. Da dieses mit dem Dublin-Assoziierungsabkommen verknüpft ist, würde auch dieses wegfallen. Dieser Verlust hätte drastische Folgen für die Schweizer Grenz-, Visa- und Asylpolitik. Aber was genau ist der Schengen-Raum?
Grundlage des Schengen-Raums bilden das 1985 zwischen Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten geschlossene Schengener Abkommen sowie das 1990 abgeschlossene Schengener Durchführungsübereinkommen. Diese hatten insbesondere das Ziel, systematische Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes abzuschaffen. Gleichzeitig wurden die Kontrollen an den Aussengrenzen verstärkt sowie weitere Massnahmen zur Eindämmung des durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen entstehenden Sicherheitsdefizits umgesetzt. So wurde zum Beispiel das Schengener Informationssystems errichtet, ein Schengen-Visum eingeführt und Regelungen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität verabschiedet. Mit dem Amsterdamer Vertrag (1999) wurde die Schengen-Zusammenarbeit in den rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU integriert. Grosse Teile des Schengen-Rechts wurden dabei «vergemeinschaftet», das heisst in die (damalige) Europäische Gemeinschaft überführt. Die übrigen Teile wurden in die sogenannte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen integriert; eine rein völkerrechtliche Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten. Die Schweiz ist seit 2008 (Bilaterale Verträge II) an den Schengen-Raum assoziiert.
Der Schengener Grenzkodex…
Die operativen Regeln des Schengen-Systems werden seit 2006 im Schengener Grenzkodex gebündelt, der im März 2016 neu gefasst wurde. Danach dürfen Binnengrenzen des Schengen-Raumes unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Die Aussengrenzen des Schengen-Raums dürfen hingegen nur über zugelassene Grenzübergangsstellen überschritten werden. An den Grenzübergangsstellen erfolgt eine Kontrolle der Einreisevoraussetzungen: bei EU-Bürger*innen eine Mindestkontrolle, bei Nicht-EU-Bürger*innen eine eingehende Kontrolle. Ausserhalb dieser Grenzübergangsstellen findet eine Grenzüberwachung statt.
… mit seinen Ausnahmebestimmungen
Der Schengener Grenzkodex sieht verschiedene Konstellationen vor, in denen Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wieder eingeführt werden können.
1) Art. 25 und 26 des Schengener Grenzkodex von 2016 erlauben im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen für bestimmte Zeit. Die Binnengrenze wird wie eine Aussengrenze behandelt (Art. 32). Für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ist ein spezielles Verfahren vorgesehen.
2) Bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat, die sofortiges Handeln erforderlich macht, kann sich dieser auf Art. 28 berufen. Der Artikel erlaubt es, für einen Zeitraum von zehn Tagen (insgesamt aber maximal zwei Monaten) sofort wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen.
3) Schliesslich erlaubt auch Art. 29 des Schengener Grenzkodex im Falle aussergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Dies für sechs Monate und höchstens dreimal um je weitere sechs Monate verlängerbar (maximal zwei Jahre).
Im März 2016 hat die EU-Kommission einen «Fahrplan» vorgestellt, wonach das Schengen-System spätestens im Dezember 2016 wieder vollständig funktionieren und das «Flickwerk nationaler Entscheidungen» ein Ende haben sollte. Dieses Ziel erwies sich als nicht realisierbar. Nach wie vor führen viele Mitgliedstaaten systematische Personenkontrollen an den Binnengrenzen durch.
Die EU-Kommission hat im September 2017 eine Revision des Schengener Grenzkodex‘ vorgeschlagen, die bislang aber noch nicht verabschiedet wurde.
Abgesehen vom Bereich Grenzkontrollen umfasst die Schengen-Zusammenarbeit aber eben auch die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit, die Gerichtszusammenarbeit, den Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität, den Bereich der illegalen Einwanderung und Visa-Recht. All diese Regelungen würden wegfallen, sollte die Waffenrichtlinie nicht durch die Schweiz übernommen werden. Für die Schweiz bedeutet dies, dass sie wieder zu einer „Insel“ mitten in Europa würde und sie von vielen Instrumenten, die unsere Sicherheit schützen, ausgeschlossen wäre.
Sarah Progin-Theuerkauf ist ordentliche Professorin für Europarecht und europäisches Migrationsrecht an der Universität Freiburg. Sie hat in Phase I des nccr – on the move das Projekt The Emergence of a European Law on Foreigner geleitet.
Dieser Blog Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des nccr – on the move Blog Beitrags «Der Schengen Raum» von Sarah Progin-Theuerkauf vom 26. April 2016.