Ein neuer Lebenslauf
Die industrielle Gesellschaft hat uns einen Normallebenslauf gebracht: Kindheit, Jugend/Ausbildung, aktive Erwachsenenphase und Ruhestand. Diese Einteilung ist nicht so natürlich, wie sie uns erscheinen mag. An manchen Orten arbeiten bereits Kinder, um für sich oder ihre Familie den Lebensunterhalt zu sichern, Ausbildungen und eine sorgenfreie Jugend waren oder sind vielen unbekannt und die Trennung zwischen Erwerbsleben und Pensioniertendasein existiert – wenn überhaupt – erst seit der Einführung der Altersvorsorge.
Heute ist es wohl an der Zeit, sich darauf einzustellen, dass sich mit dem Wandel der Gesellschaft, mit der Globalisierung und der neuen Berufswelt auch unser Lebenslauf ändert. Die fixe Einteilung dürfte immer stärker aufgehoben oder flexibilisiert werden. Damit verliert ein weiteres Gerüst unserer Existenz an Stabilität. Nur langsam – und wie die Reaktionen der Menschen gerade in den reichen Ländern zeigen, gegen viel Widerstand und mit vielen Ängsten verbunden – nehmen wir seit einiger Zeit zur Kenntnis, dass Kultur und Identität keine fixen Vorgaben sind, die uns einpacken wie ein wärmender Pullover. Immer deutlicher wird uns bewusst, wie intensiv der Wandel, die Durchmischung und gegenseitige Durchdringung kultureller Elemente sind. Was wir gestern als typisch und selbstverständlich angesehen haben, ist heute altmodisch und out.
Unsere Lebensweise, um einen anderen Begriff für Kultur zu verwenden, hat sich in wenigen Jahrzehnten grundlegend verändert. Denken wir nur an die Geschlechterrollen oder unseren Umgang mit verschiedenen Formen der Sexualität und der Liebe, von denen viele vor wenigen Jahren noch als krank, strafbar und unnatürlich galten, während heute die gleiche Behauptung zu heftigen Protesten führt. Oder denken wir an unser Freizeit- und Essverhalten, das mediterranisiert worden ist.
Und während es früher für den Sohn des Metzgers selbstverständlich war, dass er das Geschäft des Vaters übernahm und damit eine quasi vorgefertigte Identität erben konnte, stehen wir heute vor der Qual der Wahl. Wir müssen nicht nur berufliche, sondern auch viele andere Teile unserer Identität wie eine Patchworkdecke zusammennähen. Das ist anstrengend, bedeutet Arbeit an der eigenen Verortung – macht deshalb auch Angst, weil man Verantwortung trägt und nicht einfach vorgefertigte Muster übernehmen kann.
Und nun fällt auch die Stütze der Lebensabschnitte
Was haben wir uns auf das Ende der Schulzeit, auf das Ende der Ausbildung, auf das Ende der Erwerbstätigkeit doch gefreut, voller Vorfreude auf die nächste Phase, die immer irgendwie verheissungsvoll erschien. Doch immer deutlicher wird erkennbar: Wir werden ein Leben lang in Ausbildung sein, wir werden immer wieder neue Tätigkeiten ausüben, und auch der Übergang in den Ruhestand dürfte als fixe Grenze aufgelöst werden. Das zeigen uns zum Beispiel die älteren Menschen, die ihren Beruf verlieren, weil ihr Wissen und ihr Können nicht mehr gefragt sind, und die deshalb eine neue Perspektive brauchen, die vielleicht über das normale Pensionsalter hinaus wichtig bleiben wird.
Die Situation der Migrantinnen und Migranten: Ein Blick in unsere Zukunft
Am deutlichsten vor Augen geführt wird uns dieser Wandel jedoch bei Migrantinnen und Migranten, vor allem bei denjenigen, die als Flüchtlinge in die Schweiz kommen. Sie alle müssen in unterschiedlichen Phasen in ihrem Leben wieder neu anfangen, eine neue Sprache lernen, einen neuen Beruf ausüben, sich in einer neuen kulturellen Umgebung zurechtfinden. Sie zeigen uns, dass es wichtig ist, dass auch ein junger Erwachsener nochmals zur Schule gehen kann, dass auch eine Dreissig- oder Vierzigjährige einen neuen Beruf erlernen kann. Denn ohne diese Möglichkeit werden sie immer abhängig bleiben, werden sie nie ihren Platz in der Gesellschaft finden.
Es ist nicht die Migration, die für diesen Wandel verantwortlich ist, sondern der Wandel der Gesellschaft insgesamt. Aber Migrantinnen und Migranten sind von diesem Wandel am stärksten betroffen. An ihrer Situation erkennen wir viele Trends der Zukunft. Unsere Fähigkeit, mit der Migration umzugehen, den Menschen neue Wege zu ermöglichen, ist das Probestück für unsere eigene zukünftige Situation – wenn wir, die wir unseren Lebensweg auch als Wanderinnen und Wanderer zurücklegen, diesen vollkommen neu gestalten müssen. Ähnlich wie Migrantinnen und Migranten stehen wir dann vor der Aufgabe, die Rahmenbedingungen unseres Lebens neu zu bestimmen.
Walter Leimgruber
Projektleiter, nccr – on the move, Universität Basel