Es begab sich aber zu der Zeit…
So, wir wissen es alle, beginnt die Weihnachtsgeschichte. Mit dem Erlass des Kaisers, der die Menschen in Scharen in Bewegung setzt. Und die Geschichte endet mit der Flucht der Familie Christi nach Ägypten. Seit einiger Zeit nehmen deshalb Kommentatoren diese Geschichte jedes Jahr zum Anlass, um über Heimatlosigkeit, Flucht und Vertreibung nachzudenken.
Sie appellieren an unser (christliches) Gewissen, Flüchtlingen, die ihre Heimat verloren haben und nun auf der Suche nach einem Ort sind, an dem sie ein neues Leben beginnen oder auch nur warten, bis sie eines Tages zurückkehren können, wenigstens einen Ort zum Überleben oder sogar eine neue Heimat zu bieten.
Für einen Moment denken wir dann über diese Verbindung von biblischer Geschichte, die für uns an Weihnachten zu einem Moment der Erbauung geworden ist – häufig einhergehend mit dem Prozess des Verdauens nach einem reichen Festmahl, beim Lesen der Weihnachtsgeschichte, dem Anzünden der Kerzen am Baum, dem Öffnen der Geschenke oder dem Lauschen der Predigt des Pfarrers in der Mitternachtsmesse –, mit der heutigen Realität nach, sehen die Parallelen, betonen aber auch sofort die Unterschiede.
Aus der einen Geschichte ist eine der grossen Weltreligionen entstanden. Sie ist kanonisiert, in der Bibel, ist zum unverzichtbaren Bestandteil von Millionen, Milliarden von Menschen geworden, seit Tausenden von Jahren, über den ganzen Erdball hinweg. Die andere Geschichte, die der heutigen Menschen auf der Flucht, hingegen ist bestimmt von Unsicherheit, nicht nur für die betroffenen Menschen selber, sondern für uns alle. Sie steht für eine Welt, die aus den Fugen geraten scheint, für Prozesse, die wir nicht wirklich verstehen, für Konflikte, die uns ratlos machen und erschüttern. Hier gibt es keine Erbauung, vor allem auch keine Lösung, geschweige denn, dass sich hier wie in der biblischen Geschichte der Anfang von etwas Neuem, Wunderbarem abzeichnen würde.
Neu zwar schon, aber eher im Sinn von beängstigend und uns unbeeinflussbar und unkontrollierbar erscheinend. Das Licht, das Jesus damals in die Welt gebracht hat, symbolisiert durch die Kerzen am Weihnachtsbaum, fehlt. Vielmehr wähnen wir uns in Dunkelheit, auf einer Reise, die einer Geisterbahn ähnelt und von der wir weder wissen, wie lange sie dauert noch wo das Ende sein wird.
Uns fehlt der Mut, vielleicht auch einfach die Weitsicht, um in dieser Zeit der Dunkelheit ein helles Licht zu sehen. Schaut man sich die Ängste vieler Menschen an, könnte man fast vor einer apokalyptischen Bedrohung sprechen, so sehr fürchten sie die Globalisierung und den damit einhergehenden Umbau der Welt wie der einzelnen Gesellschaften. Sie zeigen auf die Ursachen des Bösen: Den überbordenden Kapitalismus, der die traditionelle Wirtschaftsstruktur in vielen Ländern nicht nur verändert, sondern zerstört, gnadenlos alle ausbeutet und mit seiner Macht ganze Staaten in den Ruin treibt und Volkswirtschaften zerstört. Den Staat und seine Unfähigkeit, mit den neuen Herausforderungen umzugehen, gehasst als gefrässiges bürokratisches Monster oder als Hort derjenigen, die sich schamlos bereichern. Die Fremden, welche die Arbeitsplätze der Einheimischen stehlen und mit ihren Werten und Normen die eigenen Vorstellungen von Recht und Gesetz, von Sitte und Moral untergraben. Die Profiteure, die nicht arbeiten und als Sozialhilfeempfänger, Subventionsschmarotzer, Abzocker oder Erben grosser Vermögen auf Kosten der Anderen leben, ohne ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten.
Vergleicht man all diese Gruppen und Herausforderungen mit der Bibel, stellt man überrascht fest, dass sie bereits damals benannt werden – nicht in der heutigen Form, aber als Figuren, denen sich Jesus zuwendet, die er kritisiert, aber auch auffordert, neue Wege zu gehen, seien es die Armen, Zerlumpten oder Aussätzigen, seien es die Steuereintreiber, Zöllner oder Pharisäer.
Wir hingegen wehren uns gegen die neuen Wege, die sich abzeichnen und die ich vereinfachend Globalisierung genannt habe. Natürlich genügt ein solches Schlagwort nicht, um den Wandel der Gesellschaft zu erfassen. Aber grundsätzlich geht es darum, dass die klassische Wirtschaftsstruktur aufgelöst und durch eine neue ersetzt wird, die hohe Anforderungen an jeden Einzelnen aber auch an ganze Staaten stellt. Es geht auch darum, dass die gesellschaftlichen Fundamente sich verändern und dass sogar die Zerstörung der natürlichen Grundlagen, des Klimas und der Ressourcen damit verbunden ist. Bleibt uns angesichts dieser gigantischen Herausforderungen nur die Arche?
Jesus hat die Menschen radikal auf etwas eingestimmt: Es ist deine Haltung, die zählt. Steh auf und geh! Wir haben den Glauben an diese einfache Wahrheit verloren. Alle anderen zählen, alle andern sind schuld, ich bin das Opfer. Gibt es denn heute noch Menschen, die sich nicht als Opfer sehen? Wie kann es nur sein, dass die Superreichen, Supererfolgreichen, Supermächtigen sich überall hinstellen, über ihre Opferrolle jammern und irgendwelche «Eliten» beschuldigen? Dass wir, denen es meist gut bis sehr gut geht, uns hinstellen und uns beklagen über Zuviel oder Zuwenig.
Die Weihnachtsbotschaft, aber auch das gesamte Leben von Jesus steht – selbst wenn man nicht gläubig ist – für die Botschaft: Steh auf, gehe deinen Weg.
Dieser Mut hat uns verlassen, und das führt dazu, dass wir nur noch das wollen, was angeblich gestern war, wir wollen in die heile Welt zurück. Und wir überlegen uns nicht, dass die Welt auch gestern nicht heil war, dass sie nie heil war. Heil ist nur, was wir für die Zukunft schaffen. Deshalb wäre es schön, wenn wir bald einmal lesen könnten:
Es begibt sich aber zur heutigen Zeit, dass …
Walter Leimgruber
Projektleiter, nccr – on the move, Universität Basel