Europas Weg zum kommunalen und regionalen Wahlrecht für Alle
Bei Demokratie- und Integrationsdebatten der letzten Jahrzehnte taucht es immer wieder auf: das Thema Wahlrecht für alle Einwohner*innen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Sowohl der Trend wie auch die Folgen sind eindeutig: die Mehrheit der europäischen Demokratien hat bezüglich der Öffnung des Wahlrechts den Einstieg gemacht, Zugewanderte werden politisch integriert, der lokale Zusammenhalt gestärkt.
Das Recht auf die Teilnahme an freien, gleichen und geheimen Wahlen ist ein Grundprinzip unserer Demokratien. Das Wort Demokratie – Volks-Herrschaft – und seine Grundanlage verdanken wir der Ur-Demokratie in Athen vor gut 2500 Jahren. Doch schon damals war das „Volk“ eine relative Grösse. Es dürften nur etwa 20% der Bevölkerung gewesen sein, die im antiken Athen mit ihrer Stimme bzw. Scherbe den Lauf des Staates beeinflussen konnten – Frauen, Sklaven und Eingewanderte besassen kein Wahlrecht.
Noch in den Demokratien der Neuzeit waren Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Herkunft, Bildungsgrad und Vermögen der Massstab für die Wahlberechtigung und den Wert einer Stimme. Heute entscheidet meist nur noch der Pass über die gleichberechtigte demokratische Zugehörigkeit und damit über das Recht, zu wählen.
In den deutschsprachigen Ländern sichert der nationale Pass die Teilnahme an allen Wahlen, ein EU-Pass in Österreich und Deutschland die gleichberechtigte Beteiligung an kommunalen Wahlen. Ein Nicht-EU-Pass bedeutet hingegen oft: keine Stimme, kein Wahlrecht.
Eher die Regel als die Ausnahme
Europaweit sind Österreich und Deutschland eher die Ausnahme als die Regel. Bereits 14 von 27 EU-Staaten und vier weitere Staaten Europas – Norwegen, Island, die Schweiz (einzelne Städte, Kantone) und Grossbritannien – praktizieren eine gesetzlich geregelte Wahlbeteiligung von Nicht-EU-Staatsangehörigen auf mindestens der kommunalen Ebene.
Hätten die Entscheidungen von Europarat und Europäischem Parlament gesetzgebende Kraft, gäbe es EU-weit bereits ein kommunales Wahlrecht für alle Migrant*innen unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
In nationale Gesetze umgesetzt wurde allerdings der Maastricht Vertrag vom 7.2.1992, der für die Europäische Union ein gemeinschaftliches Verständnis einer gleichberechtigten Bürgerschaft festlegt: „Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat … hat in dem Mitgliedsstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für Angehörige des betreffenden Mitgliedstaates …” (Art. 8b).
Kein Neuland
Für manche EU-Staaten war dieses Bürgerschafts-Verständnis kein Neuland. In Irland, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Finnland wählen EU- und Nicht-EU-Staatsangehörige kommunal aktiv und passiv, z.T. nach 6 Monaten Aufenthalt und schon seit 1963. Einige Staaten erlauben nur die aktive Wahl, aber keine Kandidatur – Belgien, Estland, Luxemburg, Litauen und Ungarn. Spanien, Portugal und das ex-EU-Land Grossbritannien vergeben das aktive Wahlrecht nur an bestimmte Personengruppen, mit denen sie aus historisch-kolonialen Gründen verbunden sind.
Zur Behebung von Mängeln bei der Integration der zugewanderten Bevölkerung verabschiedete der Europarat noch am 5.2.1992 – nicht zufällig 2 Tage vor dem Maastricht-Vertrag – die „Konvention des Europarats über die Beteiligung von Ausländern am öffentlichen Leben der Gemeinden”. Diese trat 1997 in Kraft und enthält die klare Selbstverpflichtung, „jedem ansässigen Ausländer bei Kommunalwahlen das aktive und passive Wahlrecht zuzugestehen“. Dies soll, so konkretisiert das Europäische Parlament 2003, für alle gelten, die „sich seit langer Zeit (drei Jahren) rechtmässig in einem Mitgliedstaat aufhalten”.
Demokratiestandard
Einige EU-Beitrittsländer, z.B. Litauen, Slowakei und Slowenien, hatten mit Einführung der Unionsbürgerschaft gleich das kommunale Wahlrecht für alle Bürger*innen ohne nationalen Pass in ihre Gesetze aufgenommen. Wurde das Wahlrecht erst einmal eingeführt, wurde es trotz wechselnder politischer Mehrheiten danach nicht mehr in Frage gestellt, sondern eher erweitert (kürzere Aufenthaltsdauer), und hat sich als Demokratiestandard etabliert.
Das Beispiel Ungarn zeigt, dass selbst eine autokratische Regierung an der politischen Partizipation von Nicht-Staatsangehörigen festhält, wenn genügend eigene machterhaltende Interessen bedient werden. Viele Nicht-EU-Staatsangehörige in Ungarn stammen aus ehemaligen ungarischen Territorien ausserhalb der EU (Ukraine, Serbien) und bilden kommunal, wie später national als Eingebürgerte, eine sichere Stimmbasis für die Regierungspartei FIDESZ.
Wales und Schottland nutzen Brexit
Stärker demokratischen Überzeugungen folgend, aber ebenfalls mit eigenen politischen Absichten verbunden, sind im Vereinigten Königreich die Entscheidungen in Wales (2019) und Schottland (2020). Sie haben nach dem Brexit das Wahlrecht für alle Einwohner*innen auf der kommunalen und regionalen Ebene – für das schottische und walisische Parlament – eingeführt. Bisher wahlberechtigte EU-Staatsangehörige bleiben dadurch politisch integriert, und mit der Erweiterung um die regionalen Ebene werden sie mit Commonwealth-Staatsangehörigen weitgehend gleichgestellt. In England fordern Städte wie Manchester (2024) ihre Regierung auf, dem Vorbild von Wales und Schottland zu folgen.
In den demokratischen Ländern, die trotz hohem Bevölkerungsanteil mit Zuwanderungsgeschichte noch kein kommunales Wahlrecht für alle eingeführt haben, sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, die u.a. mit symbolischen Wahlen für Nicht-Wahlberechtigte den Druck erhöhen. Weitere Initiativen sind der internationale Tag des Wahlrechts für Alle (26. April) und nationale und internationale Kooperationen wie das collectif J’y suis, j’y vote (Frankreich), SOS Mitmensch (Österreich), das Migrant Democracy Project (UK), WIR WÄHLEN (Deutschland) oder Voting rights for all residents (Europa).
Stadt-Zugehörigkeit statt Pass-Zugehörigkeit
Eine lebendige, wehrhafte Demokratie braucht die Beteiligung all ihrer Einwohner*innen. Ein Teil des Weges hin zu diesem Ziel ist bereits zurückgelegt und zur unaufgeregten Praxis geworden. Seit fast 30 Jahren wählen EU-Staatsangehörige in einem anderen EU-Staat das Parlament der Gemeinde, in der sie leben und sind dort auch als Mitglieder der Gemeindeparlamente aktiv. In 18 europäischen Staaten gilt das ebenso für Nicht-EU-Staatsangehörige und in den meisten Fällen können sie auch selbst gewählt werden. Das entscheidende Kriterium ist nicht mehr der Pass, sondern die Zugehörigkeit zur Stadt/ Gemeinde.
Clemens Hauser ist seit 20 Jahren ehrenamtlich aktiv bei der Wahlrechtsinitiative Freiburger Wahlkreis 100% (D) und koordiniert die Netzwerke WIR WÄHLEN (D) und Voting Rights for All Residents/ VRAR (Europa).
Links zu vorherigen nccr blogs:
–Voting Rights – A Question of Nationality or Residence?
–Non-Citizen Voting Rights: A New European Network
–Der erste «internationale Tag für das Wahlrecht für alle Einwohner*innen»