Heimat – Einschluss oder Ausschluss?
«All inclusive»: An was denken Sie da? An Buffets, die unter der Last der Speisen fast zusammenbrechen, und an Touristinnen und Touristen, die sich den ganzen Tag bedienen, weil alles gratis ist? Oder an ein Schlaraffenland, in dem man nichts tun muss, um seinem Lebensunterhalt zu verdienen, weil alles einfach da ist? Oder an eine Vollkasko-Gesellschaft, die für jede und jeden einen Platz hat, sich um alle kümmert, niemanden abstürzen lässt, sondern ein feinmaschiges Netz sozialer Inklusion knüpft?
Solche Bilder des «All Inclusive» spielen sicherlich bei manchen Menschen, die sich zur Migration entscheiden oder die hochgradig mobil sind, eine Rolle. Es ist in der Tat der Traum von vielen, dorthin zu gehen, wo alles reichlicher vorhanden ist als im eigenen Land. Und dieses «alles» meint in vielen Fällen primär materielle Dinge – Verdienst, Wohlstand, Güter – meint aber ebenso häufig auch das Versprechen einer solidarischen Gesellschaft mit Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und Rente.
Meine Hauptthese ist, dass sich die Frage des Ein- und Ausschlusses aber längst nicht mehr nur auf die Zugezogenen, die Migrierenden und Mobilen zu beziehen hat. Ein- und Ausschlüsse sind zu Fragen geworden, die sich der Gesellschaft insgesamt stellen. Massnahmen nur im Migrationsbereich machen daher häufig wenig Sinn, denn viele der Themen, die hier verhandelt werden, betreffen auch Menschen, die nicht migriert sind – etwa Themen der Bildung oder der Sozialgesetzgebung. «All inclusive» heisst dann auch, wir müssen alle Themen einschliessen, die Frage stellen, wohin sich diese Gesellschaft im 21. Jahrhundert bewegen soll. In Wirklichkeit ist Migrationspolitik nichts anderes als Gesellschafts- und Zukunftspolitik. Packen wir letztere nicht an, finden wir auch keine Lösung für erstere.
Ich spreche im Folgenden einige Aspekte dieses «All Inclusive» an, beginnend beim ökonomischen Einschluss, über die Frage des sozialen und kulturellen Einschlusses bis schliesslich zur politischen Inklusion und Partizipation.
Setzen wir bei einer aktuellen Frage ein, dem Asylbereich, bei dem die Prozesse des Ein- und Ausschlusses besonders schwierig und komplex sind. Hier können wir feststellen, dass die Eingliederung, insbesondere in den Arbeitsmarkt, aber auch in vielen anderen Bereichen, nicht befriedigend funktioniert. Was wir brauchen, ist ein intensives Coaching der betroffenen Personen aus einer Hand, über Jahre hinweg. Das hat sich am besten bewährt. Das ist aber sehr teuer und sehr aufwändig.
Ein solches Vorgehen bedingt deshalb eine Neustrukturierung der Sozialpolitik und damit etwas, das weit über die Migrationspolitik hinausgeht. Die Integrations- und Sozialpolitik der Zukunft heisst Bildungspolitik – auf allen Stufen und in allen Lebensphasen. Besonders prekär sieht es bei Familien aus: Sozialer Ausschluss oder Armut fallen nicht unmittelbar über das Individuum her, sondern sind meist das Endresultat einer problematischen Biographie oder auch der Generationenentwicklung. Benachteiligungen, die sich auf die Ausbildungs- und Berufschancen auswirken, entstehen zu einem wesentlichen Teil in den ersten Lebensjahren. Wenn die Kinder in die Schule kommen, ist die Prägung da, die Korrektur kaum mehr möglich. Wenig überraschend gehören Migrationsfamilien (und hier v.a. Flüchtlingsfamilien) und Alleinerziehende zu den besonders Benachteiligten. Was steht dieser frühen Förderung entgegen? Die Vorstellung von der Kernfamilie als allein verantwortlich. Wollen wir also etwas ändern in diesem Bereich, müssen wir über unsere Familienmodelle nachdenken. Auch dies ein Thema, das weit über die Migrationspolitik hinausreicht.
Kommen wir zur sozialen Integration und wechseln wir die Gruppe vollständig: Soziale Integration läuft in der Schweiz im Wesentlichem über Arbeit und daher ähnlich wie die wirtschaftliche. Insgesamt ist die Situation nicht so schlecht, wir kennen keine Ghettos und keine abgeschotteten Communities. Aber grosse Defizite der sozialen Integration finden wir seltsamerweise gerade bei hochqualifizierten Personen. In Rankings schneidet die Schweiz bei Fragen der Zufriedenheit, der Gastfreundschaft, der sozialen Kontakte miserabel ab. Das ist sicherlich auch eine Frage der hiesigen Mentalität, die sich ja nicht gerade durch unbekümmerte Offenheit auszeichnet. Aber auch fehlender Bemühungen von Seiten der Behörden. Vor allem aber zeigt sich in diesem Bereich, dass Integration zwei aktive Seiten braucht, die sich engagieren. Man kann sich nicht integrieren, wenn die Seite der Einheimischen abwesend ist.
Diese Suche nach Zusammenhalt ist heute intensiv spürbar. Sie führt in vermehrtem Masse zur Suche nach Heimat. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren es die Industrialisierung und Urbanisierung, heute sind es die Europäisierung und Globalisierung, die einen «Vertrautheitsschwund» erzeugen. Und Teil des Vertrautheitsschwundes ist natürlich auch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und den Fremden. Das Merkwürdige daran ist allerdings die Tatsache, dass sich die Grenzen des «Vertrauten» und des «Fremden» ständig verschieben. Was gestern noch fremd war, ist heute vertraut. Aber es kommen immer wieder neue Elemente der Überfremdung hinzu, was heisst, dass vieles diskutiert und ausgehandelt werden muss. Selbst alltägliche Banalitäten wie der Handschlag, über die wir uns nie Gedanken gemacht haben, werden daher zur Kampfzone um Normen und Werte, die von vielen als die kulturelle Ebene des Ein- und Ausschlusses gesehen werden. Welche Verhaltensweisen werden akzeptiert, welche nicht?
Solche Entwicklungen gehören also zur Gesellschaft. Passieren aber zu viele Änderungen zu schnell, verlieren viele Menschen den Boden unter den Füssen, sie werden angeblich «entwurzelt» – eine seltsame Metapher bei einem Lebewesen mit zwei Beinen. Und solche Prozesse der Erneuerung und Veränderung sind immer mit grosser Unsicherheit verbunden und rufen immer Ängste und Gegenreaktionen hervor. Das heisst auch, es muss eine dauernde Rückversicherung geben, was denn für diese Gesellschaft Bedeutung hat, was die zentralen Werte sind. Auch wenn sich diese im Laufe der Zeit ändern, entbindet uns dieser Wandel nicht von der Aufgabe, festzulegen, was hier und heute für uns gültig ist. Und das bedingt auch, allen Menschen, die an einem Ort leben, die Möglichkeit zu geben, bei den Fragen, die die Gesellschaft bewegen, mitzureden. Vom offiziellen Diskurs der demokratischen Teilhabe ist immerhin ein Viertel der Bevölkerung ausgeschlossen. Einschluss müsste daher über den sozialen und wirtschaftlichen Einschluss hinaus auch die politische Zugehörigkeit umfassen – damit diese Menschen Rechte haben, sich aber auch verantwortlich fühlen für ihr Umfeld und ihre Umwelt. Denn, grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein politisches System, in dem grosse Teile der Bevölkerung von der Mitsprache ausgeschlossen sind, als Demokratie bezeichnet werden kann. Gibt es eine Grenze, ab der eine Gesellschaft nicht mehr demokratisch bezeichnet, nicht mehr «all inclusive» ist? Und wann ist diese Grenze erreicht?
«All inclusive», ich fasse zusammen, heisst also:
- ökonomisch, sozial, kulturell und politisch einschliessen;
- möglichst alle Menschen, die hier leben, einschliessen;
- möglichst alle Themen, die für die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft wichtig sind, einschliessen;
- und möglichst alle Räume zwischen lokal und global einschliessen.
Ein solches «All Inclusive» ist nicht mehr Privileg einer kleinen Luxusgruppe, ein solches «All Inclusive» ist in der Tat auch kein Luxus, sondern vielmehr notwendige Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft.
Walter Leimgruber
Projektleiter, nccr – on the move, Universität Basel und Stiftungsrat Stapferhaus Lenzburg
Sie finden eine fundierte Erörterung all dieser Aspekte des Ein- und Ausschlusses in der schriftlichen Version des Inputreferats, das Walter Leimgruber am 30. Oktober 2017 anlässlich des zweiten vom «nccr – on the move» organisierten Dialogs unter Expertinnen und Experten im Stapferhaus Lenzburg gehalten hat.
Nutzen Sie die letzten Tage der Ausstellung «HEIMAT – eine Grenzerfahrung» des Stapferhauses, an der Sie im Rahmen einer virtuellen Reise verschiedene Einwohnerinnen und Einwohner dieser von Vielfalt geprägten Schweiz treffen, und etwas über deren Heimatgefühle erfahren. Noch bis zum 25. März 2018 im Zeughaus Lenzburg.