Integrationspolitik des strategischen Unterscheidens
Der politische Begriff der Integration lässt Ausländerinnen und Ausländer als besonders integrationsbedürftig erscheinen. Soziale Probleme werden ethnisiert und strukturelle Benachteiligungen verwischt. Dabei bedient sich die offizielle Integrationspolitik einer undurchschaubaren Vielfalt an Unterscheidungen, die sie unverbindlich und unberechenbar werden lässt. Anstelle der heutigen Integrationspolitik sollte eine Politik der echten Anerkennung treten.
Die offizielle Integrationspolitik identifiziert Ausländerinnen und Ausländer, derweilen auch Menschen «mit Migrationshintergrund», als jene Anderen, denen sie eine besondere Integrationsbedürftigkeit attestiert. Das ist erklärungsbedürftig, wenn man sich den im Migrationskontext verwendeten Begriff der sozialen Integration vor Augen führt. Soziologisch gesehen bedürfen nämlich alle Individuen der Einbindung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Ob als Arbeitnehmer*in, Quartierbewohner*in oder Sozialhilfebezüger*in: Wir alle müssen in der einen oder anderen Form Teil werden von sozialen Gefügen, Systemen, Gruppen oder juristischen Körperschaften. So gesehen stellt das Ankommen in der spätmodernen, funktional differenzierten Gesellschaft den Normalfall dar. Egal, woher man kommt, die «plurale Ankommenskultur», von der Kijan Espahangizi (2015) spricht, betrifft alle Menschen einer Gesellschaft.
Ethnisierung sozialer Probleme
Indes werden Ziele und Massnahmen der Integration auf ausländische Staatsbürger*innen bezogen und soziale Probleme im Zeichen der Integration umbenannt. Arbeitslosigkeit wird zu einem Integrationsproblem, sprachliches Unvermögen auch, genauso wie Drogenkonsum, Gewalt oder Littering. Hinter dem begrifflichen Integrationskomplex breiten sich individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen aus, wirtschaftliche Leistungen und Bildungsniveaus von Bevölkerungsgruppen werden erkennbar, Indikatoren von Lebens- und Problemlagen, weiter auch strukturelle Herausforderungen des Zusammenlebens und vieles mehr. Wir haben es mit einer bewussten Ablenkung oder Verschleierung von struktureller Benachteiligung zu tun, von der notabene nicht nur Ausländer*innen betroffen sind: Ungleich verteilte Bildungschancen, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oder in der Arbeitswelt. Als Integrationsfragen verpackt, lässt sich der Ursprung dieser Ungleichheiten auf die ausländische Herkunft von Einzelnen oder Gruppen projizieren. Schulischer Erfolg wird damit zu einer Frage der ausländischen Herkunft, Trinkverhalten und Kriminalität ebenso. Mit Stuart Hall (2018) müssten wir uns fragen, ob wir es mit einem «Spektakel der Ethnizität» zu tun haben. Damit wird Integrationspolitik in allererster Linie zu einer Politik des strategischen Unterscheidens, mit der Defizite und Potentiale, strukturelle Chancen und Herausforderungen ethnisiert und individualisiert werden. Dennoch ist sie aber keineswegs blind gegenüber einer strukturellen Dimension.
Unterschiedliche Integrationsregeln des Zusammenlebens
Integrationspolitische Akteure stellen denn auch fest, dass viele Zugezogene unter Chancenungleichheiten leiden. Sie problematisieren institutionelle Diskriminierung ganz explizit. Die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) betont, wie wichtig die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den Integrationsprozess sind und dass es der Offenheit der Einheimischen bedarf. Gleichzeitig verstärken die gesetzlichen Regelungen aber strukturelle Ungleichbehandlungen. Gemäss dem Anfang 2019 in Kraft gesetzten neuen Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) sollen nur noch gut integrierte Ausländer*innen eine Niederlassungsbewilligung erhalten. Bei Nichterfüllung von Integrationszielen riskieren sie eine Rückstufung ihres ausländerrechtlichen Status auf Ausweis B. Speziell benachteiligt werden die sogenannten Drittstaatsangehörigen. Behörden können ihnen unter Androhung von Sanktionen besondere Leistungen aufbürden und einen entsprechenden Willen zur Integration abfordern. Diese Ausmusterung eines Teils der Wohnbevölkerung in juristische Sonderkategorien steht im krassen Widerspruch zur Maxime der Herstellung von Chancengleichheit und der Teilhabe am öffentlichen Leben. Denn für diese Bevölkerungsgruppen gelten andere Integrationsregeln des Zusammenlebens. Der Trend geht eindeutig in Richtung Integrationszwang.
Kategorisierungen entlang von nationaler Herkunft oder ethnisch-kulturellen Zuschreibungen dienen jedoch nicht ausschliesslich behördlichen Repressionen oder ausländerrechtlichen Ausschlüssen. Die offizielle Integrationspolitik trachtet gleichzeitig danach, die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Bevölkerung mit der politischen Figur des «Citoyens» zu verwischen. Jenseits der nationalstaatlichen Differenz zwischen Schweizer-, Drittstaaten- und EU-Bürger*innen adressiert sie alle Menschen als «Citoyens» oder Mitbürger*innen. Die Politik der Anerkennung von Integrationsleistungen pflegt das Ideal der heimisch gewordenen Integrierten, die sich für ein gelingendes Zusammenleben engagieren. Dabei soll die nationalstaatliche Herkunft eine untergeordnete Rolle spielen – und so auch die Tatsache, dass ein grosser Teil der Bevölkerung über keine politischen Rechte verfügt. Die gleiche Politik, die die Drittstaatsangehörigen als potentiell defizitäre ethnisierte Andere markiert, ist also darauf bedacht, alle Ausländer*innen zu «Citoyens» zu ermächtigen.
Universelle Bürgerrechte statt unklare Integrationspolitik
Die gegenwärtige Integrationspolitik zeichnet sich nicht bloss durch ein ambivalent gehaltenes Verschnüren restriktiv-verpflichtender und freiheitlich-freiwilliger Verfahrenselemente aus. Ihr zugrunde liegt weiter auch eine Vielzahl widersprüchlicher Differenzen, ein wirres Spiel «gleitender Signifikanten» (Hall 2018), das die offizielle Integrationspolitik unverbindlich und unberechenbar werden lässt. Wir haben es mit einer eigentlichen «Politik der Indifferenz» zu tun, die das (ausländische) Gegenüber in einen «Zwischenraum der Unsicherheit» verortet: Mal als staatlich marginalisierte*r Ausländer*in, mal als «Citoyen»; mal wird es gefördert, mal gefordert; mal gilt die Politik der Anerkennung, mal der Abwehr; mal ist das Problem struktureller Natur, mal eine Frage der ethnonationalen Herkunft. Wir sollten über die Abschaffung des politischen Integrationsbegriffs nachdenken. An dessen Stelle wäre am ehesten über «universelle Bürgerrechte» zu verhandeln. Zygmunt Bauman (2009) nach sind sie die Vorbedingung jeder «sinnvollen Politik der Anerkennung».
Referenzen:
Bauman, Zygmunt (2009): Gemeinschaften. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Kijan Espahangizi (2015): Im Wartesaal der Integration. terra cognita Nr. 27, S. 104-107.
Hall, Stuart (2018): Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Piñeiro, Esteban (2015): Integration und Abwehr. Genealogie der Schweizer Ausländerintegration. Zürich: Seismo.