Kontrastierende Auffassungen von Rassismus verunmöglichen einen Dialog
Solange die Rassismusfrage von einem moralisierenden Definitionsstreit überlagert wird, dürfte es schwierig bleiben, eine konstruktive Debatte zu lancieren. Um verschiedene Perspektiven zu verbinden, wären die zugrundeliegenden Denk- und Verhaltensmustern aufzudecken, zu reflektieren und abzulegen oder umzudeuten. Während eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen für Betroffene, beispielsweise Schwarze, praktisch unumgänglich ist, lässt sich aber eine solche von der Weissen Bevölkerung kaum erzwingen.
‘Letztlich sind wir alle rassistisch.’ Wenn ich diese Aussage früher hörte, sträubten sich mir jeweils gleich die Haare. Diese Reaktion dürfte, wie ich in diesem Beitrag darlege, für breite Kreise der (Weissen) Mehrheitsgesellschaft bezeichnend sein. Im Rückblick erkläre ich sie mir folgerndermassen: Erstens, weil dieses Pauschalurteil auf mich natürlich nicht zutraf bzw. zutreffen durfte. Wenn ich etwa im Freundeskreis einen Rassismusvorwurf wegen einem Hinweis auf afrikanische Unpünktlichkeit einstecken musste, wies ich den kurzerhand als Missverständnis von mir. Zweitens, weil ich aus der Aussage unüberlegterweise schloss, dass Rassismus somit quasi unvermeidlich gegeben und seine Bekämpfung daher vergeblich wäre. Nachdem ich mich seit einigen Jahren vertiefter mit Anti-Schwarzen Rassismus auseinandergesetzt habe, möchte ich im Folgenden erläutern, weshalb ich dies mittlerweile anders sehe. Etwas weniger pointiert als im Eingangszitat könnte man sagen: Alle Weissen neigen zu rassistischen Reflexen im Alltag und begünstigen dadurch Rassendiskriminierung.
Sofortige Abwehr anstatt Zuhören
Wenn es um Rassismus als Alltagsphänomen geht, führt der Versuch einer Begriffsbestimmung nicht selten zu einem aufgeregten Stellvertreterstreit über mögliche Ursachen, z.B. dass es schlicht gute und böse Menschen gäbe (und nur letztere rassistisch sind) oder dass psychologische Gründe (Angst vor Fremden) dazu führten; ferner wird mit Aufklärung (‘Rassen gibt es nicht!’) oder gar mit sogenanntem Anti-Weissen Rassismus gekontert. Unter solchen Umständen wird ein konstruktiver Austausch meist unmöglich und die Auseinandersetzung mit Rassismus unfruchtbar.
Ein typisches, polemisches Beispiel dafür liefert etwa ein Feuilleton-Artikel aus der NZZ (Basad 2019) mit dem Titel «Wie ich für drei Stunden zur Rassistin wurde.» Die Autorin berichtet erklärtermassen «irritiert» über ein Seminar zu Alltagsrassismus, in dem sich die beiden Leiterinnen «anmassten», gewisse Haltungen in fiktiven Handlungssituationen als rassistisch zu bezeichnen, was eine andere skeptische Teilnehmerin tatsächlich dazu veranlasste, «die Flucht zu ergreifen». Die Journalistin zeigt sich empört darüber, dass «Rassismus keine objektive Tatsache, sondern vom Schmerz [eines Opfers] abhängig» sein könne. Aber wie sie abschliessend einräumt, ist ihre eigene «Abneigung [gegenüber diesem Verständnis von Alltagsrassismus] zu gross», um dies den Leiterinnen des Seminars gegenüber zu thematisieren. Stattdessen verfasst sie den Artikel, der die Leserschaft von der Absurdität des erwähnten Rassismusvorwurfs überzeugen soll.
Der Spiess wird umgedreht
Wie auch immer das erwähnte Seminar verlief, bezeichnend an der Reaktion der Journalistin ist das wiederkehrende Muster, das durch zahlreiche Studien und Erfahrungen belegt ist: Sobald ein Hinweis auf Rassismus zur Diskussion steht, drehen die Angesprochenen den Spiess um, indem sie jeden Verdacht von sich weisen oder einer Situation eine rassistische Konnotation absprechen, da sie keine rassistische Ideologie vertreten oder erkennen (wollen). Dadurch verlagert sich die Aufmerksamkeit vom Inhalt des Vorwurfs zum Angesprochenen, der*die zum (vermeintlichen) Opfer einer falschen Beschuldigung wird und seine angeschlagene Befindlichkeit betont. Mitunter übertönt die Empörung über den unberechtigten Rassismusvorwurf also den eigentlichen Auslöser, was eine konstruktive Diskussion definitiv verunmöglicht. Dieser Reflex gilt allerdings für bekennende Rassist*innen nicht, die gemäss Umfragen und Erfahrungsberichten in der Schweiz eine Minderheit stellen (BFS 2019). Aber: So verwerflich ihre Verunglimpfungen oder gar Tätlichkeiten sind, kommen sie eher selten vor und können allenfalls mit strafrechtlichen Mitteln geahndet werden (FRB 2019, 40ff).
Ein Umstand von weitaus grösserer Tragweite ist der Alltagsrassismus, also das Auftreten und Zusammenspiel wiederholter, oft unbewusster Haltungen, Gesten oder Standpunkte, die einen strukturellen Rassismus (vgl. Efionayi-Mäder, Ruedin et al. 2017, 55) widerspiegeln und gleichzeitig auf heimtückische Weise untermauern und stetig erneuern. Letzerer ist – ähnlich wie Sexismus – in (unbewussten) Denkmustern, Vorstellungen, Bildern, institutionalisierten Abläufen und Machtverhältnissen verankert. Es ist daher kein Zufall, dass zahlreiche Schwarze mehr Mühe mit indirekten oder unterschwelligen Rassismusformen bekunden, die sie oft unerwartet treffen und auch von progressiven Menschen, Freunden, Kolleginnen oder Familienmitgliedern ausgehen. Aber gerade, wenn wichtige berufliche oder intime Beziehungen auf dem Spiel stehen, hüten sich die Betroffenen meist davor, diese zur Sprache zu bringen.
Institutionelle und strukturelle Rassismusausprägungen werden ausgeblendet
Eigene Nachforschungen zeigen, wie eingangs angedeutet, dass breite, weisse Bevölkerungskreise Rassismus gemeinhin «als eine gefestigte Ideologie unter Ausschluss der alltäglichen Formen oder der institutionnellen und strukturellen Dimension» verstehen (Efionayi-Mäder, Ruedin et al. 2017, 60). Dieser tradierten, verbreiteten Begriffsauffassung, wie sie auch aus der internationalen Fachliteratur hervorgeht (Eddo-Lodge 2018; Olua 2018; Di Angelo 2019), möchte ich ein sozialwissenschaftlich und rechtlich geprägtes Verständnis gegenüber stellen, das neue Ausprägungen und strukturell-institutionelle Formen des Rassismus sowie die Betroffenenperspektive stärker in den Fokus rückt: Es geht weniger um Gesinnung und Intention der Täterschaft, als um faktische Benachteiligungen respektive Privilegien und – auch unintedierte oder unreflektierte – Vorteilnahme gegenüber den Rassismusopfern. Alles Aspekte, die für viele Weisse blinde Flecken in rassifizierten Beziehungen darstellen. Dem diskutablen Einwand, dass Rassismus auch von Schwarzen ausgehen kann, würde ich entgegnen, dass analoge Reaktionen sicher bestehen, die strukturellen Privilegien der Weissen deren Rassismus jedoch eine andere Qualität verleihen. In Anlehnung an Olua (2019) würde ich folgende – wenn auch etwas vereinfachende – Definition vorschlagen: Rassismus im Sinn von rassistischer Diskriminierung bezeichnet jede Form von Benachteiligung aufgrund der ‘Rasse’, sofern sie von Machtsystemen verstärkt wird. Dieses Begriffsverständnis kommt auch der allgemein anerkannten juristischen Definition von Rassendiskriminierung (siehe unten) relativ nahe.
Überlieferte Denkens- und Verhaltensmuster zu erkennen und auf einem Kontinuum von wenig bis stark ausgeprägten Rassismustendenzen zu verorten, anstatt diese mit einem moralisierenden Diskurs über gute und böse Menschen oder andere Stellvertreterdiskussionen zu überdecken, könnte dazu beitragen, die Frage weniger aufgeregt und reflektierter anzugehen. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich auf neue, unbequeme Perspektiven und Erkenntnisse einzulassen, den Betroffenen wirklich zuzuhören und auch übergeordnete Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen.
Anmerkungen:
Ich beschränke mich in diesem Beitrag auf den Rassismus gegenüber Schwarzen, auch wenn sich gewisse Schlussfolgerungen vermutlich auf andere Rassismusausprägungen übertragen lassen.
Artikel 1 der Anti-Rassismus-Konvention ICERD definiert rassistische Diskriminierung als «jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird».
Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin und Vizedirektorin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel.
Referenzen:
– Basad, Judith (2019). Wie ich für drei Stunden zur Rassistin wurde. Neue Zürcher Zeitung, 11.04.2019.
– BFS Bundesamt für Statistik (2019). Vielfalt und Sichtbarkeit. Demos 2/2019. Bundesamt für Statistik.
– DiAngelo, Robin (2018). White fragility: Why it’s so hard for white people to talk about racism. Beacon Press.
– Eddo-Lodge, Reni (2018). Why I’m no longer talking to white people about race. Bloomsbury Publishing.
– Efionayi-Mäder, Denise, Didier Ruedin, Mélanie-Evely Pétrémont, Noémi Michel und Rohit Jain (2017). Anti-Schwarzen-Rassismus in der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme. Université de Neuchâtel.
– FRB Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2019). Bericht «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz». Letzte Änderung 21.08.2019. Eidgenössisches Department des Inneren.
– Oluo, Ijeoma (2019). So you want to talk about race. Seal Press.