«Mediterrane Abteilungen» in Schweizer Altersheimen
Ob gewollt oder nicht – in der Schweiz verbringen viele Menschen ihr Lebensende in einem Altersheim wo sie den Alltag oft als klinisch und eintönig erleben. Initiiert von migrantischen Organisationen, wird in «mediterranen Abteilungen» versucht, herkunftsbezogene Lebenswelten für das transnationale Altern zu schaffen. Diese nehmen je nach historischem, sozialem und institutionellem Kontext eine spezifische Form an. Das Projekt «Caring about Diversities» untersucht die daraus resultierende Pflegepraxis.
Die Vorstellung von Altersheimen löst oft gemischte Gefühle aus. Beim Eintritt in ein Altersheim gibt eine Person meist unfreiwillig die eigene Lebenswelt auf. Für migrantische Personen können damit auch herkunftsspezifische Bezüge in ihrem bis anhin transnational geprägten Alltag wegfallen. Der eigene Handlungsspielraum wird zudem zunehmend durch psychische und physische Beeinträchtigungen eingeschränkt, wodurch dem Personal und dem Heim bei der Ausgestaltung der neuen Lebenswelt viel Gestaltungsmacht zufällt. Trotzdem wird für Personen, die Pflege und Betreuung brauchen, das Heim oft zur pragmatisch besten Option.
In den letzten zehn Jahren sind in verschiedenen Altersheimen der Schweiz Angebote entstanden, welche sich auf bestimmte Personengruppen ausrichten. Unser Forschungsprojekt «Caring about Diversities» beschäftigt sich mit neuen Ansätzen der stationären Langzeitpflege. Ein solches Setting stellen die sogenannten «mediterranen Abteilungen» dar, die in erster Linie für italienisch-sprachige Personen, sowie Personen aus verwandten Sprachräumen wie Spanien und Portugal geschaffen wurden.
Was sind «mediterrane Abteilungen»?
Die konkrete Ausgestaltung «mediterraner» Pflegeabteilungen unterscheidet sich je nach Institution. Gemeinsam ist den Abteilungen, dass versucht wird, gewisse Merkmale dessen aufzugreifen, was als «italienisch» verstanden wird. Darunter fallen insbesondere die Sprache, aber beispielsweise auch ein eigenes Verpflegungsangebot oder eine italienischsprachige Messe. Insofern können diese Massnahmen als Versuch verstanden werden, die altersbedingte Pflege an von einer Gruppe geteilte Bedürfnisse anzupassen und dadurch qualitativ zu verbessern.
Dieser Ansatz hat gewiss Vorteile, er birgt jedoch auch Herausforderungen. Die geteilte Sprache von Personal und Bewohnenden vereinfacht die Kommunikation und ermöglicht einen vertieften Austausch. Dies erlaubt das Aushandeln von Bedürfnissen wie der «authentischen» Zubereitung eines italienischen Gerichts oder das gemeinsame Erleben eines italienischen Konzerts. Gleichzeitig besteht die Gefahr, diskriminierende und stereotypische Tendenzen zu verfestigen und sich dadurch wieder von der konkreten Lebenswelt der einzelnen Person wegzubewegen.
«Mediterrane Abteilungen» im geografischen und historischen Kontext
Die Tendenz zur Verallgemeinerung beginnt bereits bei der Bezeichnung: Was als «mediterran» bezeichnet wird, bezieht sich hauptsächlich auf Personen italienischer Herkunft. Tatsächlich umfasst der Mittelmeerraum als Herkunftsgebiet jedoch Menschen aus 20 weiteren Ländern.
Wenn wir die Entstehung der «mediterranen Abteilungen» historisch verorten, werden die Verbindungen des Begriffs zur schweizerischen Politik deutlich: Während der Nachkriegszeit, als in Italien für viele Menschen wirtschaftliche Perspektiven fehlten, rekrutierte die Schweiz gezielt Personen für Arbeitseinsätze aus Italien. Der damalige gesellschaftliche und politische Diskurs reduzierte diese Menschen häufig auf ihre Arbeitskraft und löste die «Überfremdungsdebatte» in der Schweiz aus. Damit verbunden wurde der rechtliche Rahmen gezielt angepasst, um die Selbstbestimmung der Menschen über die Dauer ihres Aufenthalts zu unterbinden. In diesem Kontext wurde der zynische Begriff des «Gastarbeiters» gebräuchlich, welcher noch heute oft unreflektiert verwendet wird. Max Frisch kommentierte dazu treffend: «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.»
Viele Personen italienischer Herkunft, die als junge Arbeiter*innen in die Schweiz kamen, sind trotzdem hier alt geworden. Über die Jahre setzten sich migrantische Organisationen wie Gewerkschaften, Vereine und die katholische Kirche deswegen für eine Alterspflege ein, welche der Herkunft italienischer Migrant*innen Rechnung trägt. Dieses Engagement war der Anstoss für die Entstehung spezifischer Pflegeabteilungen.
Die Haltung gegenüber italienischen Personen in der Schweiz scheint sich seither grundlegend geändert zu haben: Statt Überfremdungsgefahr zu signalisieren, steht eine «mediterrane» Abteilung nun für die «gemeinschaftliche Lebensqualität» ihrer Bewohnenden und wird gezielt bei der Vermarktung eines Altersheims verwendet.
Transnationales Altern: Ein Versuch, die Komplexität institutioneller Pflegepraxis zu erfassen
Das Projekt «Caring about Diversities» untersucht das Zusammenspiel verschiedener Spannungsfelder im Kontext «mediterraner Abteilungen» und fragt, wie es sich auf die konkreten Pflegebeziehungen auswirkt. Während der ethnografischen Feldforschung auf einer «mediterranen Abteilung» wurde sichtbar, dass die Entstehung von migrantisch orientierter Alterspflege nicht nur als geografisch und historisch, sondern auch als sozial und institutionell situiert zu verstehen ist.
Es geht also nicht nur um Pflege, sondern auch um die soziale Konstruktion von Differenzkategorien und wie sich diese über die Zeit verändern und mit gesellschaftlichen Machtstrukturen zusammenspielen. Auch die Arbeitsorganisation eines Heims als Institution spielt eine wichtige Rolle. Beispielsweise sollte das Personal auf der untersuchten Abteilung italienisch sprechen und gleichzeitig Deutsch als Arbeitssprache beherrschen. Diese erhöhten Anforderungen an sprachliche Kompetenzen werden jedoch weder gefördert, noch schlagen sie sich im Lohn nieder. Ausserdem werden zur «Leistungserhebung» von der Heimleitung dieselben pflegerischen und betriebswirtschaftlichen Indikatoren wie für die gesamte Institution verwendet. Alterspflege soll also zugleich massgeschneidert werden und verallgemeinerbaren Standards entsprechen.
Das Konzept des «transnationalen Alterns», hilft dabei, die Komplexität der Pflegepraxis in «mediterranen Abteilungen» zu verstehen. Aus dieser Perspektive wird in unserer Forschung sichtbar, wie in einem betriebswirtschaftlich orientierten Altersheim der Wunsch nach einer italienischen Lebenswelt auf sozial-historisch geprägte Vorstellungen von Italiener*innen und Italien in der Schweiz trifft und die Pflegebeziehungen eine von diesem Zusammenspiel geprägte spezifische Form annehmen.
Thierry Meli doktoriert an der Berner Fachhochschule Gesundheit Pflege, Fachbereich Pflege. Das Doktorat ist Teil vom SNF Projekt «Caring about Diversities» und an das Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern angebunden.