Migration und Alter: Was Transnationalität für die Soziale Arbeit bedeutet
Ältere Migrant*innen verstärken im Alter häufig ihre transnationalen Bezüge. Sie pendeln zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland oder leisten finanzielle Unterstützung über Landesgrenzen hinweg. Dies ist mit Chancen und Herausforderungen für die Soziale Arbeit verbunden. Es stellt sich daher die Frage, mit welchen Facetten von Transnationalität die Sozialarbeitenden konfrontiert sind und wie sie damit umgehen.
Soziale Arbeit kann in Bezug auf das Transnationale drei Formen annehmen: 1. Die transnational sensible Ausgestaltung von lokalen Angeboten, 2. die Kooperation von Sozialarbeitenden in Aufnahme- und Herkunftsländern und 3. die Gründung grenzüberschreitender Dienste (Boccagni, Righard & Bolzman 2015, 316). Dieser Blog-Beitrag befasst sich mit der erstgenannten Form und fokussiert insbesondere auf das Thema Transnationalität im Alter. Nehmen wir drei Beispiele: Frau Sanchez, Herr Demirci und Frau Rossi. In Wirklichkeit heissen sie anders, ihre Geschichten sind jedoch wahr.
Frau Sanchez lebt seit 1962 in der Schweiz. Sie ist seit einem Jahr nicht mehr berufstätig und möchte die neu gewonnene Freiheit dafür nutzen, im Jahr rund fünf Monate in ihrem Herkunftsland Spanien zu verbringen. Dort besitzt sie eine Eigentumswohnung. Da Frau Sanchez’ Rente sehr tief ist, möchte sie Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV beziehen. Sie wendet sich deshalb an eine Sozialberaterin. Von ihr erfährt sie aber, dass sie für einen EL-Bezug nicht mehr als drei Monate pro Jahr ausserhalb der Schweiz verbringen darf. Ausserdem habe sie wegen ihrer Immobilie in Spanien kein Anrecht auf EL.
Nun zu Herrn Demirci. Er ist 70- jährig, stammt aus der Türkei und wohnt schon lange in der Schweiz. Seine Verwandten, die in verschiedenen Ländern leben, unterstützt er finanziell. Er ist auch in seinem Alter erwerbstätig, damit er diese Zusatzaufwände decken kann. Weil er aus seiner Wohnung ausziehen muss, sucht er eine Beratungsstelle für Wohnen im Alter auf. Seine finanziellen Verpflichtungen im Ausland thematisiert er dort jedoch nicht.
Die 64-jährige Frau Rossi wiederum spielt mit der Idee, definitiv in ihr Herkunftsland Italien zurückzukehren. Welche Altersstrukturen und -angebote erwarten sie dort? Darüber möchte sie mit einer Fachperson sprechen. Sie wendet sich an eine Beratungsstelle zu Altersfragen an ihrem Wohnort in der Schweiz. Die Stelle hat den Auftrag, in allen Fragen rund ums Alter(n) zu beraten.
Die drei Beispiele zeigen, dass transnationale Bezüge vielfältig und nicht nur geografischer Art sein können. Bei Frau Sanchez und Frau Rossi geht es unter anderem um physische Mobilität über Landesgrenzen hinweg, bei Herrn Demirci um transnationale finanzielle Unterstützungsbeziehungen. Mit welchen Herausforderungen sehen sich die Sozialarbeitenden bei den drei Beispielen konfrontiert?
Einschränkende rechtliche Rahmenbedingungen
Im Beispiel von Frau Sanchez wird deutlich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen das Handeln der Ratsuchenden einschränken. Die in der ZHAW-Studie «Transnationale Lebensräume und Unterstützungsnetzwerke älterer Migrantinnen und Migranten» interviewten Sozialarbeitenden sehen ihren Auftrag angesichts dieser Ausgangslage insbesondere darin, über diese Rahmenbedingungen zu informieren. Ebenso wollen sie die Bedeutung der transnationalen Bezüge für die betreffenden Personen ernst nehmen und Möglichkeiten finden, die Handlungsfähigkeit der Betroffenen lokal und transnational zu stärken.
Bezüge zum Heimatland systematisch erfragen
Bei Herrn Demirci stellt sich die Frage, wie stark Sozialarbeitende Bezüge der Ratsuchenden ausserhalb der Schweiz standardmässig erfragen sollen, um deren gesamte Lebenssituation besser zu verstehen. Unsere Online-Befragung ergab, dass 55 % der Sozialarbeitenden Ressourcen und Bezüge, welche die älteren Menschen mit Migrationshintergrund ausserhalb der Schweiz haben, aktiv erfassen. Allfällige soziale Verpflichtungen ausserhalb der Schweiz werden von 42 % der Befragten angesprochen. Die zum Teil fehlende Sensibilität für transnationale Bezüge hängt damit zusammen, dass Soziale Arbeit noch stark von einem Ortsbezug von sozialen Beziehungen ausgeht. Es ist deshalb sehr personenbezogen, ob Sozialarbeitende Transnationalität der Ratsuchenden als wichtig erachten und deshalb auch aktiv erfragen oder nicht.
Länderkenntnisse oder transnationale Vernetzung?
Bei Frau Rossi zeigt sich eine weitere Herausforderung: Welche transnationalen Kenntnisse sollte sich die Soziale Arbeit aneignen, um lokal gut beraten zu können? Von den befragten Sozialarbeitenden sind 52 % der Ansicht, dass ihnen Wissen zu bestimmten Ländern und Regionen fehlt, um gute grenzüberschreitende Beratung leisten zu können. Eine Vernetzung mit Sozialarbeitsstellen mit Sitz im Ausland ist bei den befragten Sozialarbeitsstellen bisher ausserdem nicht vorhanden. Keine der befragten Stellen vernetzt sich mit Organisationen, die ihren Sitz in den Herkunftsländern der Ratsuchenden haben.
Vorteile der «Transnationalitätsbrille»
In theoretischen Publikationen wird gefordert, dass Sozialarbeitende verstärkt eine «transnationale Brille» aufsetzen sollen, um den zunehmenden länderübergreifenden Bezügen von Ratsuchenden besser gerecht werden zu können. In der Praxis sieht es allerdings – wie die drei Beispiele zeigen – anders aus, wie ein von uns befragter Sozialarbeiter zusammenfasst: «Transnationale Vernetzung zu thematisieren, ist in der Beratung die Kür, nicht die Pflicht.» Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass Transnationalität der Adressat*innen der Sozialen Arbeit in hohem Masse vorhanden ist, allerdings in der Praxis der Sozialen Arbeit noch keine systematische Berücksichtigung dieser Transnationalitätskomponente besteht. Auch erfolgt kein expliziter Bezug auf theoretische Konzepte von «Transnationalität». Es besteht eine Art Theorie-Praxis-Gap.
Durch den systematischen Einbezug der transnationalen Komponente in Organisationen der Sozialen Arbeit können jedoch die Chancen, die solche Bezüge für die jeweiligen Personen beinhalten, gestärkt werden. Im besten Fall können damit die Handlungsspielräume der Adressat*innen lokal und transnational erweitert werden. Die rechtlichen Schranken werden bleiben, eine «transnationale Brille» ermöglicht es aber, innerhalb dieser Rahmenbedingungen Handlungsoptionen der Klient*innen der Sozialen Arbeit zu erweitern. Ausserdem könnte ein transnationaler Blick in der Sozialen Arbeit bedeuteten, dass das Thema der Integration vielfältiger gedacht werden kann.
Bei Frau Sanchez bedeutet ein transnationaler Blick vor allem, dass über die einschränkenden rechtlichen Rahmenbedingungen informiert wird. Die Lebenssituation von Herrn Demirci könnte mit einem transnationalen Blick besser verstanden werden, und bei Frau Rossi bräuchte es eine Vernetzung mit Sozialarbeitsstellen in Herkunftsländern, damit die Ratsuchende umfassend beraten werden könnte.
Publikationen zur Studie sind auf www.zhaw.ch/transnational abrufbar.
Sylvie Johner-Kobi ist Professorin an der ZHAW Soziale Arbeit am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe.
Referenzen:
– Paolo Boccagni, Erica Righard & Claudio Bolzman (2015). Mapping Transnationalism: Transnational social work with migrants, Transnational Social Review 5(3), 312–319.
– Johner-Kobi, Sylvie, Garabet Gül, Uwe Koch, Milena Gehrig (2020). Transnationale Lebensräume und Unterstützungsnetzwerke älterer Migrantinnen und Migranten. Zürich: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.