Migration und Sicherheit: die Suche nach einem neuen Schwerpunkt
Die als «Flüchtlingskrise» kaschierte europäische Krise der Regierungsführung hat es vor Augen geführt: Angesichts des Auftauchens von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus dem Süden und Nahen Osten, angesichts des Wiedererstarkens der Nationalismen und einer großen Skepsis gegenüber der Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise wird die mangelnde Fähigkeit vieler europäischer Führungsspitzen augenscheinlich, diesen Phänomenen mit adäquaten Antworten zu begegnen.
Angesichts der Überlagerung der Krisenerscheinungen muss deshalb auch die Rolle der Migration und der Mobilität für die Aussen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik neu reflektiert werden.
Die nach dem Fall der Mauer beschleunigte Globalisierung hat eine gesellschaftliche Lage entstehen lassen, die nicht mehr von der Geopolitik des Kalten Krieges dominiert wird, sondern von den ökonomischen Marktkräften. Im gleichen Zeitraum entstand mit «Schengen» erstmals ein politisch-geografischer Raum, der Binnenmobilität ermöglicht und gemeinsam mit dem Dublin-Abkommen die Kontrolle der Grenzen an die Peripherie der Europäischen Union (EU) auslagert beziehungsweise bei Flüchtlingsströmen die Zuständigkeiten regelt («one state only»).
Koordination des Migrationsregimes
Die Fähigkeit dieses Migrationsregimes zur Koordination hat sich 2015 angesichts der Ankunft von Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlingen erschöpft. Mangelnder Wille zum burden-sharing und fehlende Solidarität zwischen den Regionen der EU sind die Merkmale der Krise. Doch die Ursachen reichen tiefer: Für die einen sind sie in der Ausstattung europäischer Wohlfahrtsstaaten zu suchen, die Flüchtlinge nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern diese mit «big government» auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und deshalb grosse Ausgaben für die Integration gewärtigen. Andere fragen indes, ob die Periode des liberalen Interregnums nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu einem Ende gekommen sei und wir, sowohl in Fragen der Sicherheit als auch in jenen des Handels und der Freizügigkeit, mit einer zunehmenden Infragestellung des acquis und einer feindseligen öffentlichen Meinung gegenüber Fragen der Liberalisierung rechnen müssen. Diese Fragen stellen sich in einer Phase, in der viele Einwanderungsländer wider Willen feststellen müssen, dass ihre Politik die zweite und selbst die dritte (sic!) Generation nicht in das gesellschaftliche, ökonomische und politische Wir zu integrieren imstande gewesen ist.
Eine Lösung in diesem Spannungsfeld kann nur die Suche nach einem neuen Schwerpunkt bieten. Im Zusammenhang mit den Flüchtlingen ist es offensichtlich, dass der Erfolg von einer Neuverhandlung von Dublin abhängt.
«Es müssen die Zuständigkeiten des Ersteinreisestaates und der EU geklärt und die Disparitäten zwischen den Staaten in der Ausführung der gemeinschaftlichen Politik minimiert werden.»
Die Probleme und mögliche Lösungen sind seit Längerem bekannt: Die Verantwortung muss stärker geteilt, Korridore für eine sichere Einreise von Flüchtlingen müssen geschaffen, die Standards müssen angeglichen und die finale Verteilung muss ebenfalls solidarisch angegangen werden. Möglicherweise kommen wir nicht umhin, dass eine «Koalition von Willigen» einen Anfang macht und im Rahmen einer variablen Geometrie sowohl mit Ansätzen einer Harmonisierung operiert als auch Kompensationsleistungen durch jene vorsieht, die nicht im inneren Kreis tätig sein wollen.
Wir müssen aber auch eine neue Balance finden zwischen dem Schutz von Flüchtlingen und der Gewährung von Rechten an Migrantinnen und Migranten. Eine solidarische Politik muss all einbeziehen – die neu Angekommenen wie auch die lang ansässigen Bürgerinnen und Bürger und Einwanderinnen und Einwanderer. Die zunehmende Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaft und stärker werdende rechtspopulistische, gegen die Einwanderung und den Freihandel gerichtete Diskurse müssen offensiv angegangen werden, um die Legitimität europäischer Einwanderungsgesellschaften neu zu sichern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Damit wir uns nicht in 30 Jahren erzählen müssen, die liberale Phase nach dem Zweiten Weltkrieg sei bedauerlicherweise lediglich eine begrenzte historische Periode gewesen.
Gianni D’Amato
Direktor und Projektleiter nccr – on the move, Universität Neuenburg
Beitrag zum grossen Band «Deutschlands Neue Verantwortung», herausgegeben von Wolfgang Ischinger und Dirk Messner, erstmals präsentiert auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2017.