Soziale Arbeit im Epizentrum nationaler Migrations- und Integrationspolitik

30.06.2020 , ((No commenti))

Soziale Arbeit ist immer eingebunden in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse und von entsprechenden Widersprüchen durchzogen. Im Kontext von Migration und Integration kommen nationalstaatliche Begrenzungslogiken hinzu. Im Bundesasylzentrum (BAZ) – gewissermassen einem Epizentrum nationalstaatlicher Migrations- und Integrationspolitik – lassen sich anhand der Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen diese Konstellation und ihre Konsequenzen für die (Un-)Möglichkeiten Sozialer Arbeit besonders gut beobachten.

Das Bundesasylzentrum (BAZ) ist erste Station für Schutzsuchende in der Schweiz und als politisch-räumliche Exklave des Bundes auf regionalem Boden ein bemerkenswerter Kosmos staatlicher Macht: Sämtliche Akteure, die im Zentrum und im hier abgewickelten Asylverfahren tätig sind, arbeiten entweder direkt für das Staatssekretariat für Migration (SEM), oder sie gehören einer Organisation an, die im Auftrag des SEM arbeitet. Das gilt für Sicherheitsdienste und Pflegepersonal ebenso wie für Seelsorgende, für das Betreuungspersonal oder für die Rechtsvertreter*innen, die den Asylsuchenden für ihr Asylverfahren zugeteilt werden. Der Zugang zum BAZ ist für NGO, für die Zivilbevölkerung und für Medienschaffende verboten oder hochselektiv geregelt. Eine regelmässige behördenunabhängige Aufsicht ist nicht installiert. Systematisch erhobene Aussenblicke gewährten bisher einzig ein Bericht der Nationalen Kommission für Verhütung von Folter und eine Evaluationsstudie der ZHAW mit dem Fokus auf die Situation der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden.

Einbindung Sozialer Arbeit ins Machtgefüge des BAZ

Die Erkenntnisse aus dieser Evaluationsstudie machen deutlich, wie grundlegende Problematiken der Sozialen Arbeit im Kontext von Migration und Flucht – ihre Einbindung in Machtverhältnisse und Verwaltungslogiken, ihre Begrenztheit auf den nationalstaatlichen Rahmen, ihre Verstricktheit in Exklusionsprozesse (Scherr und Scherschel 2016) – im BAZ in verschärfter Form auftreten.

Das Machtgefüge im BAZ präsentiert sich so, dass die Leitung des Zentrums beim SEM liegt, während für die Betreuung und Unterbringung private oder halbprivate Organisationen beauftragt sind. Der Auftrag wird regelmässig neu ausgeschrieben, womit für die Betreuungsorganisation eine gute Zusammenarbeit mit dem SEM existentiell ist. Angesichts enormer logistischer Herausforderungen im Zentrumsalltag stehen organisatorische und verwaltungstechnische Kompetenzen der auftragnehmenden Organisation im Vordergrund.

Die sozialpädagogischen Betreuungspersonen der unbegleiteten Minderjährigen werden zwar durch diese Organisation eingestellt, sind vor Ort jedoch in erster Linie konfrontiert und in Kontakt mit dem SEM als Zentrumsleitung. Daraus ergeben sich zum einen bedeutende Eingriffe in die Fachlichkeit des sozialpädagogischen Personals, zum Beispiel bei der Festlegung von Ausgangszeiten oder bei Sanktionen im Fall von Regelbrüchen. Zum anderen drohen höchst problematische Vermischungen der Rollen des SEM als Zentrumsleitung einerseits und als Entscheidungsmacht im Asylverfahren andererseits: Ob und inwieweit zum Beispiel renitentes Verhalten im Zentrum ins Asyldossier aufgenommen wird oder nicht, entzieht sich einer unabhängigen Kontrolle.

Reduzierter Auftrag…

Im BAZ entfaltet die Schweizer «Integrationspolitik des strategischen Unterscheidens» (Piñeiro 2019) schon früh ihre volle Wirkung: Hier entscheidet sich für die grosse Mehrheit der Asylsuchenden, ob sie aus der Schweiz ausgewiesen oder aber als «anerkannte Flüchtlinge» oder «vorläufig Aufgenommene» jenen Zielgruppen zugewiesen werden, deren Integration bald nach Kräften gefördert und gefordert werden soll. Bis dahin aber – bis also die Zuständigkeit des Nationalstaats für die Nöte der Menschen lückenlos erwiesen ist – gilt ein stark reduzierter Betreuungsauftrag, der in Richtung «Notfallbetreuung» geht, wie sich im Rahmen der Evaluation eine Fachperson äusserte.

Im Falle der unbegleiteten Minderjährigen sind Auftrag und Betreuung zwar ausgebaut worden, da der Bund bei dieser Zielgruppe aufgrund von internationaler und nationaler Rechtsprechung die volle Verantwortung für die Sicherung des Kindeswohls trägt. Doch selbst hier fehlt es bisher an differenzierten Schutzkonzepten und an räumlichen und personellen Ressourcen. So ist in diesem von Verwaltungslogik dominierten Kontext nicht gewährleistet, dass individuelle Bedarfs- und Gefährdungslagen durchgehend erkannt und adäquater Betreuung zugeführt werden können. Interviews mit Fachpersonen und die Analyse von Falldossiers zeigten, dass am ehesten dann reagiert wird, wenn explizite Störungen im Zentrumsalltag auftreten, während für sensiblere Themen oder stillere Kinder wenig Zeit und Aufmerksamkeit bleiben.

…und Verstrickung in Exklusionsprozesse

Obwohl von einer insgesamt hoch vulnerablen Zielgruppe mit einem hohen Anteil traumatisierter Kinder auszugehen ist, bleibt es so bei «Symptombekämpfung» statt fundierter Abklärung, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.

Die Aufgaben, die die Fachpersonen Sozialer Arbeit derweil erledigen, umfassen erste Inklusionsbemühungen, können aber auch Teil von Exklusionsprozessen sein: Sie versuchen mit der örtlichen Jugendarbeit zu vernetzen, um Zugang zu jugendgerechten Räumen zu schaffen, und sie begleiten die Jugendlichen zur hoch umstrittenen forensischen Altersdiagnostik zwecks Prüfung ihrer Minderjährigkeit. Sie erklären, wie ein Ticketautomat im ÖV funktioniert und helfen gleichzeitig, Rückführungen ins Herkunftsland zu organisieren. Die in der Sozialen Arbeit ohnehin angelegten Spannungen zwischen «Hilfe» und «Kontrolle» erfahren hier eine drastische Verschärfung.

Dringender Positionierungsbedarf Sozialer Arbeit

Als Reaktion auf die geschilderten Begrenzungen und Spannungen zeigten sich in der Evaluation unter den Fachpersonen vor allem zwei Strategien: Erstens der Stellenwechsel – während der Beobachtungsphase kündigten mehrere Personen ihre Stelle und begründeten dies zum Teil explizit mit nicht länger vertretbare Bedingungen. Zweitens liess sich die Übernahme eines Auftragsverständnisses beobachten, das darauf fokussiert ist, im «Hier und Jetzt» für die Kinder und Jugendlichen da zu sein, ihnen bestmöglich Ansprechperson zu sein in ihren Nöten und Unsicherheiten. Dies bedingt jedoch, begrenzte Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen, Widersprüchlichkeiten und die Nicht-Zuständigkeit Sozialer Arbeit für all jene, die ihre Not nicht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft machen können, zu ertragen.

Beide Strategien sind nachvollzieh- und gut begründbar, und beide verweisen auf die offenkundige Dringlichkeit einer professionellen Positionierung der Sozialen Arbeit (auch) im Kontext von Migration und Flucht. In Deutschland sind dazu nach 2015 erste Positionspapiere erschienen, z.B. das Denkpapier des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit Dresden oder das Positionspapier zur Sozialen Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften. Normative Grundlagen alleine reichen nicht aus, sondern wesentlich sind gemeinsame Diskurse und Initiativen, in denen Fachpersonen «vor Ort», Betroffene, NGO und Forschende die (Un-)Möglichkeiten Sozialer Arbeit unter den gegebenen Bedingungen reflektieren, benennen und sich auch politisch Gehör verschaffen.

Eva Mey ist Projektleiterin und Dozentin am Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Sie leitete die erwähnte Evaluation des UMA-Pilotprojektes zur Situation der unbegleiteten Minderjährigen in den BAZ. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Migrations- und Integrationspolitik, Soziale Ungleichheit, Jugend, Sozialstaatliche Intervention und Biografie.

Referenzen:

– Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Dresden (2016). Denkpapier: Solidarische Arbeit mit geflüchteten Menschen (Stand 18.4.2016).
– Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016). Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis, Berlin.
– Mey, Eva; Keller, Samuel; Adili, Kushtrim; Bombach, Clara; Eser, Miryam; Gehrig, Milena Kehl, Konstantin; Müller-Suleymanova, Dilyara (2019). Evaluation des UMA-Pilotprojektes. Befunde zu kindes- und altersgerechten Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden in den Zentren des Bundes. Schlussbericht.
– Nationale Kommission zur Verhütung von Folter NKVF (2018). Bericht an des Staatssekretariat für Migration (SEM) betreffend Überprüfung durch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in den Zentren des Bundes im Asylbereich 2017-2018, Bern.
– Piñeiro, Esteban (2019). Integrationspolitik des strategischen Unterscheidens. Blogbeitrag nccr on the move.
– Scherr, Alfred und Scherschel, Karin (2016). Soziale Arbeit mit Flüchtlingen im Spannungsfeld von Nationalstaatlichkeit und Universalismus: Menschenrechte – ein selbstevidenter normativer Bezugsrahmen der Sozialen Arbeit? Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 36 (141), 121-129.

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