Stimmrecht für Ausländer*innen ja oder nein: macht es überhaupt einen Unterschied?
Die Positionen für oder gegen das Stimmrecht für Ausländer*innen sind im öffentlichen Diskurs parteipolitisch abgesteckt. Doch was sagt die Wissenschaft zu einem möglichen Nutzen des Stimmrechts für die Integration zugewanderter Personen? Die Suche nach einer Antwort gestaltet sich, wie in den Sozialwissenschaften üblich, komplex, führt jedoch zu einem nuancierten und klaren Fazit.
Die aktuellen politischen Debatten um die Ausweitung des Ausländer*innenstimmrechts in den Kantonen Genf und Basel-Stadt zeigen einmal mehr, dass die öffentliche Diskussion für oder gegen politische Mitsprachrechte für zugewanderte Personen in der Schweiz klar parteipolitisch geprägt ist. Dabei argumentieren linke Parteien, dass das Ausländer*innenstimmrecht der Integration von ausländischen Personen zuträglich sei, indem es ihre Mitsprache und ihr Zugehörigkeitsgefühl stärke. Von rechter Seite wird dem entgegengehalten, dass politische Rechte erst als Krönung eines geglückten Integrationsprozesses angesehen werden sollten. Entsprechend soll deren Erlangung einzig über den Weg der Staatsbürgerschaft führen, der in der Schweiz im internationalen Vergleich gesehen relativ lange dauert.
Doch was sagt die empirische Forschung zu diesem Thema? Macht das Stimmrecht für Ausländer*innen überhaupt einen Unterschied bei der Integration der ausländischen Wohnbevölkerung? Eine wissenschaftliche Antwort auf diese Frage ist, wie so häufig in den Sozialwissenschaften, komplexer, als es zunächst den Anschein hat.
Der Einfluss politischer Rechte auf die Integration
Es gibt nur relativ wenige Studien, die den direkten Zusammenhang zwischen dem Zugang zum Ausländer*innenstimmrecht und der Integration von zugewanderten Personen untersucht haben. Grund dafür ist die Anonymität der Wahlvorgangs, und damit verbunden ein diesbezüglicher Mangel an wissenschaftlichen Daten.
Die beschränkte empirische Evidenz, über die wir verfügen, stammt vor allem aus Schweden, da in diesem Land entsprechende Registerdaten für die sozialwissenschaftliche Forschung am besten zugänglich sind. Gemäss dieser Forschung beeinflusste eine Verkürzung der bereits relativ kurzen Wartezeit auf das Stimmrecht von sechs auf drei Jahre die Wahlteilnahme von zugewanderten Personen in Schweden nicht signifikant. Gleichzeitig hatte die Einführung des Stimmrechts für Ausländer*innen und somit die Ausweitung der Wählerschaft um zugewanderte Personen in Schweden einen klar messbaren Einfluss auf die Abstimmungsergebnisse, etwa im Bereich der Familienpolitik, und machte somit einen politischen Unterschied.
Anders als das Stimmrecht für ausländische Personen, welches häufig auf lokale oder regionale (z.B. kantonale) Wahlen beschränkt ist, bringt der Zugang zur Staatsbürgerschaft eines Landes volle politische Rechte auf allen Ebenen, lokal, regional und national, mit sich. Die Forschung hierzu zeigt einen klar positiven Einfluss des Zugangs zu Staatsbürgerschaft auf die Integration. So beteiligen sich eingebürgerte Migrant*innen signifikant häufiger an Wahlen als beispielsweise ausländische Personen mit Stimmrecht. Längerfristig haben eingebürgerte Personen auch ein besseres politisches Wissen und geben eher an, das Gefühl zu haben, dass ihre politische Teilhabe eine Wirkung hat. Eine Mehrheit der Studien legt somit nahe, dass der Zugang zu politischen Rechten eine wichtige symbolische und integrierende Wirkung hat, indem er unter zugewanderten Personen das Gefühl, mitbestimmen und teilhaben zu können, verstärkt (siehe hierzu auch der Blogbeitrag von Matteo Gianni in dieser Reihe).
Integrationspolitischer Kontext beeinflusst Integration und sozialen Zusammenhalt
Der ausschliessliche Fokus auf die Frage, wie politische Rechte die Integration von Migrant*innen beeinflussen, greift jedoch zu kurz, da er der Komplexität von Integrationsprozessen nicht genügend Rechnung trägt. Sowohl im öffentlichen als auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird Integration als ein mehrdimensionaler Prozess wahrgenommen. Neben politischer Integration über die Einbürgerung oder das Ausländer*innenstimmrecht spielen auch die Integration in Schule und Arbeitsmarkt sowie die gesellschaftliche Integration eine wichtige Rolle. Der Zugang zu diesen verschiedenen Lebensbereichen bedingt ferner gewisse Verständigungsmöglichkeiten, sprich, Sprachkenntnisse. Für ein umfassendes Verständnis individueller Integrationsprozesse müssen deshalb alle integrationspolitischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, die nebst der Regelung politischer Rechte auch arbeitsmarktbezogene sowie soziale und kulturelle Massnahmen beinhalten.
Die Forschung, insbesondere auch zu den Schweizer Kantonen, zeigt, dass gesamthaft inklusive integrationspolitische Rahmenbedingungen die Integration zugewanderter Personen positiv beeinflussen. Dabei erhöhten sie auch das Zugehörigkeitsgefühl, sowie die Bereitschaft, sich zivilgesellschaftlich und politisch zu engagieren oder sich einbürgern zu lassen. Der Nutzen inklusiver Integrationspolitiken beschränkt sich jedoch nicht nur auf die ausländische Wohnbevölkerung. Er zeigt sich auch in einem gestärkten sozialen Zusammenhalt und einer verminderten Feindlichkeit gegenüber ausländischen Personen in der Gesellschaft insgesamt. Grund dafür ist der erleichterte Zugang zugewanderter Personen zu sozioökonomischen, politischen und kulturellen Rechten, der ihre Handlungsfähigkeit und Sichtbarkeit fördert und ihre Stellung in der Gesellschaft verbessert. Inklusive Politiken haben somit das Potenzial, zugewanderte Personen von passiven, unmündigen und abhängigen ‘Fremden’ in vertraute, aktive und aktiv beitragende Mitglieder der Gesellschaft zu verwandeln.
Die Ursprungsfrage, ob das Ausländer*innenstimmrecht einen Unterschied macht, kann aus sozialwissenschaftlicher Sicht folglich mit einem nuancierten Ja beantwortet werden. Eine Mehrheit existierender Studien kommt nämlich zum Schluss, dass ein inklusiver integrationspolitischer Kontext, wozu auch das Stimmrecht für ausländische Personen zählt, nicht nur der Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, sondern auch dem gesamtgesellschaftlichen sozialen Zusammenhalt zuträglich ist.
Anita Manatschal, Professorin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) und Co-Leiterin des Projekts «Attitudes Towards Migration and Democracy in Times of Intertwined Crises» des «nccr – on the move».
Referenzen:
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