Strukturellen Rassismus sichtbar machen

07.06.2023 , in ((Structural Racism)) , ((No commenti))

Die Beratungsstellen für Rassismusopfer sind mit vielfältigen Diskriminierungsvorfällen konfrontiert, welche in historisch gewachsene gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind und Ungleichheiten legitimieren und reproduzieren. Diese manifestieren sich in ideologischen Einstellungen und oft unbewussten Haltungen sowie institutionalisierten Ausschlussmechanismen, die Menschen auf verschiedenste Weise benachteiligen.

Rassismus ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das sich systematisch und vielschichtig im gesellschaftlichen Alltag (re-)produziert. Um ihn zu verstehen, müssen die interpersonellen, institutionellen und strukturellen Dimensionen berücksichtigt werden, in welche Rassismus eingebettet ist, sich manifestiert und Normalität schafft. Diese verknüpften Dimensionen sind geprägt von Machtverhältnissen, welche gesellschaftliche Normen hervorbringen und aufrechterhalten sowie Institutionen und Individuen beeinflussen.

Seit über zehn Jahren dokumentieren die Mitgliedstellen des Beratungsnetzes für Rassismusopfer Meldungen zu rassistischer Diskriminierung in allen Lebensbereichen. Sie findet Ausdruck in expliziten Grenzüberschreitungen, verbalen Übergriffen, subtilen Herabsetzungen oder Unterstellungen sowie strukturell in Form von Racial Profiling oder dem erschwerten Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum.

Die Meldungen verdeutlichen, dass sich Rassismuserfahrungen schweizweit konstant und systematisch wiederholen und unterschiedlichste Personengruppen mit historisch gewachsenen, undifferenzierten sowie stigmatisierenden Vorstellungen von ‘Andersartigkeit’ und ‘Fremdheit’ konfrontiert werden. Diese Vorstellungen prägen auf individueller Ebene Denkmuster, die zu – nicht unbedingt beabsichtigten – rassistischen Handlungen führen. Auf institutioneller und struktureller Ebene wirken diese homogenisierenden, hierarchisierenden und polarisierenden Narrative auf Gesetze, Wissensbestände und Entscheidungsabläufe ein, die bestimmte Menschen von vornherein benachteiligen und andere privilegieren.

Struktureller Rassismus ist schwer zu erkennen und benennen

Strukturelle Benachteiligung ist oft subtil und wird gesellschaftlich toleriert, da sie nicht im Wirkungsfeld der Absichten und Einstellungen einzelner Personen liegt. So finden vorläufig aufgenommen Personen in der Schweiz auch nach mehreren Jahren Aufenthalt nur schwer eine Arbeitsstelle oder Zugang zu Bildung; kopftuchtragende Musliminnen werden von bestimmten Berufen, etwa als Lehrpersonen oder mit Kundenkontakt, ausgeschlossen; Schwarze Menschen werden systematisch und ohne begründeten Anlass von der Polizei, der Grenzwache und Sicherheitsangestellten kontrolliert; Menschen mit als ‘fremd’ wahrgenommene Namen haben mehr Mühe, zum Vorstellungsgespräch oder zur Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden; und ausländische und Schwarze Kinder werden in der Schule weniger gefördert und sowohl von Lehrpersonen als auch von Mitschüler*innen mit Stereotypen konfrontiert.

Das sind nur wenige Beispiele, die an das Beratungsnetz für Rassismusopfer herangetragen werden. Insbesondere die rassistischen Vorfälle in den Bereichen Arbeit, Bildung, Verwaltung, Arbeits- und Wohnungsmarkt halten sich konstant auf hohem Niveau. Sie machen aber nur die Spitze des Eisberges aus: Die Mehrheit der rassistischen Vorfälle wird nicht gemeldet. Vor allem strukturelle Benachteiligungen können von den Betroffenen oft nur schwer als solche benannt und nachgewiesen werden und nicht betroffene Personen erkennen diese nur selten.

Unzulängliche Rechtsmittel und fehlende Reflexion

Die Möglichkeiten, sich gegen strukturellen Rassismus zu wehren, sind sehr begrenzt. Gesetzlichen Rahmenbedingungen und der mangelhafte Zugang zum Recht bilden schwer überwindbare Hürden und allfällige rechtliche Schritte führen meist nicht zu Genugtuung für die Betroffenen. Strukturelle Diskriminierungen werden zudem von den zuständigen Institutionen oft dezidiert bestritten, bestehende Strukturen und Abläufe nicht hinterfragt und so rassistische Praktiken aufrechterhalten. Racial Profiling etwa wird von Polizeibehörden nicht als institutionell angelegt erkannt, sondern als Fehlverhalten im Einzelfall abgetan.

Viele der uns gemeldeten Vorfälle dokumentieren, dass Entscheidungsabläufe auf dem Wohnungsmarkt rassistisch geprägt sind und wenig reflektiert werden. Auch auf dem Arbeitsmarkt legitimieren strukturell verankerte Normvorstellungen Ungleichbehandlungen und verfestigen rassistische Vorurteile. So bewirbt sich eine Person für eine Praktikumsstelle in einer Apotheke und erhält die Antwort, dass sie aufgrund ihres Kopftuchs nicht in Frage komme. Die Beratungsstelle bittet die Apotheke um eine schriftliche Stellungnahme. Die Apotheke antwortet, dass eine Mitarbeiterin mit Kopftuch angeblich dem Vertrauensverhältnis mit der auf Naturmedizin ausgerichteten Kundschaft schaden könnte und lehnt ausdrücklich ab, dass es sich um Rassismus handle. Eine andere Frau bewirbt sich auf eine Stelle. Als die Firma erfährt, dass sie ein Kopftuch trägt, erhält sie trotz anfänglich guten Chancen eine Absage. Aus Befürchtung, Aufträge zu verlieren, könne die Firma keine Personen mit Kopftuch einsetzen. Diese Fallbeispielen illustrieren, wie strukturell-institutionelle Praktiken nicht als rassistisch wahrgenommen werden, da (angeblich) keine explizite rassistische Absicht besteht.

Die Folgen von strukturellem Rassismus sind jedoch für die Betroffenen gravierend, da dieser wiederholt in mehrere Lebensbereiche eingreift und den Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Arbeit beeinträchtigt. Zudem bestehen über Generationen hinweg kaum Möglichkeiten, sich der Wirkung rassistischer Strukturen zu entziehen. Dies wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus: Neben dem durch Diskriminierung verursachten Stress und der psychischen und physischen Belastung, richten die finanziellen und sozialen Konsequenzen langfristigen Schaden an.

Anerkennung des Problems

Obwohl das Bewusstsein für Rassismus in der Schweiz wächst, besteht noch kein gesamtgesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Ursachen von Rassismus eng mit gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen verwoben sind und über das Handeln einzelner Personen hinausgehen. Betriebe, Institutionen und Behörden müssen sich deshalb auf einen Lernprozess einlassen, um benachteiligende und häufig unbewusste Machtmechanismen, Handlungsmuster, Regeln und Abläufe zu erkennen. Die Politik und Entscheidungsträger*innen müssen Rassismus als strukturelles, institutionelles und gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen und Gegenmassnahmen ergreifen. Wenn die Bereitschaft und das Engagement vorhanden sind, sind Lösungen möglich.

Das Beratungsnetz für Rassismusopfer widmet sich weiterhin aufmerksam dem Monitoring und ist bestrebt, anhand der bestehenden Datenlage und mittels Fallbeispielen strukturelle Diskriminierung sichtbar zu machen und die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Es darf nicht vergessen gehen, dass wir alle die Verantwortung dafür tragen, die vorherrschenden Normen, Routinen und Machtverhältnisse zu hinterfragen, einen kritischen Blick auf deren Konsequenzen für die davon benachteiligten Menschen zu werfen und Rassismus in all seinen Dimensionen aufzubrechen.

Gina Vega ist die Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und des Beratungsnetzes für Rassismusopfer von humanrights.ch.

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Artikel, der 2022 in der von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus herausgegebenen Zeitschrift Tangram (Nummer 46) erschienen ist.

Bibliographie:

-Daniel Auer, Julie Lacroix, Didier Ruedin und Eva Zschirnt, Ethnische Diskriminierung auf dem Schweizer Wohnungsmarkt – Bericht an das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO), Februar 2019
-Natascha A. Kelly, Rassismus – Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!, Atrium Verlag, 2021, Zürich
-Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2019 – 2022 Bericht zu rassistischer Diskriminierung in der Schweiz auf der Grundlage des Dokumentations-Systems Rassismus DoSyra, 2019 – 2022, Beratungsnetz für Rassismusopfer, humanrights.ch und Eidg. Kommission gegen Rassismus (EKR), 2020 – 2023 Bern.

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