Was wir aus dem MIPEX 2020 lernen können (und was nicht)
Die Proteste gegen Polizeigewalt und Demonstrationen zu Black Lives Matter in den USA bewegen auch in der Schweiz. Die Frage liegt nahe, wie die hiesige Situation in Bezug auf rassistische Diskriminierung aussieht und welche Lehren aus der Black Lives Matter-Bewegung im historischen und politischen Kontext der Schweiz gezogen werden können. Dabei helfen können Indizes wie der kürzlich aktualisierte Migrant Integration Policy Index (MIPEX), an dem die Schweiz seit 2004 beteiligt ist.
Der MIPEX ist ein mehrdimensionaler Index zur standardisierten Erfassung der Migrations- und Integrationspolitiken in aktuell 52 Ländern, die damit systematisch erhoben und vergleichbar gemacht werden. Im Fokus stehen dabei der Rechtsrahmen und die Umsetzungspraxis der Politiken, nicht die Integration von Migranten und Migrantinnen.
Das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel nimmt an diesem international kollaborativen Unterfangen teil, weil Indizes wie der MIPEX ein wichtiges Hilfsmittel für die Wissenschaft und die Politikberatung sind. Sie ermöglichen die vereinfachte Erfassung komplexer Politiken und stellen im Sinne eines Beitrags zur Versachlichung der Debatten überprüf- und vergleichbare Daten zur Verfügung. Dabei ist es uns ein Anliegen, die Grundlagen zu Indizes wie dem MIPEX offenzulegen. So ist etwa auch der im Rahmen des nccr – on the move erstellte Index der Bürgerrechtsgesetze in den 26 Schweizer Kantonen (SwissCit) transparent und überprüfbar.
Die Möglichkeiten und Grenzen von MIPEX
Natürlich haben quantitative Erhebungsinstrumente ihre Grenzen. Unter dem Anspruch der Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit ist es beispielsweise nicht immer möglich, alle Facetten der Integrationspolitiken abzubilden. Dies lässt sich am Beispiel des MIPEX gut illustrieren: Obwohl die Einbürgerungspraxis in der Schweiz 2018 verschärft wurde, hat sich der entsprechende Indikator im MIPEX nicht verändert. Der Grund dafür ist einfach – auf der gesamten Skala von «strengen» bis «laxen» Einbürgerungspraktiken bleibt die Veränderung unwesentlich. Im Vergleich zu anderen Ländern in Westeuropa hatte die Schweiz bereits vor 2018 eine restriktive Einbürgerungspraxis. Wenn es darum geht, Nuancen der integrationspolitischen Entwicklung in der Schweiz über einen längeren Zeitraum zu beobachten oder mit anderen Ländern zu vergleichen, ist der Nutzen des MIPEX somit begrenzt.
Die Indikatoren des MIPEX haben zudem eine klare normative Dimension. Mit der empirischen Beschreibung aktueller Politiken und deren Vergleich gibt der Index implizit vor, welche Richtung diese Politiken anzustreben haben. Der MIPEX orientiert sich zum einen an verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben und Grundprinzipien, und wertet entsprechend ausgerichtete Politiken höher. Zum anderen fussen die Indikatoren auf wissenschaftlich erhärteten Erkenntnissen. Wenn z. B. die Teilhabe der Migrant*innen als positiv gewertet wird, beruht dies nicht auf einer «Meinung», sondern auf empirischen Forschungen die entsprechende positive Effekte festgestellt haben. Zu diesen Grundlagen zählen auch Studien des SFM oder des nccr – on the move.
Der internationale Vergleich ist wichtig
Der Fokus bei MIPEX liegt auf der Gesetzgebung und gerade in der föderalistischen Schweiz gibt es wesentliche regionale oder lokale Unterschiede in deren Implementierung. Diese erforschen wir einerseits separat (SwissCit Indikatoren, SFM Studie), und andererseits betrachten wir im Rahmen des MIPEX aus einer möglichst umfassenden Perspektive, auf welche Weise die Schweiz mit der Integration von Migrant*innen umgeht.
Auch wenn der historische und politische Kontext in jedem Land variiert, gibt uns MIPEX wichtige Anhaltspunkte über die Stellung der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern, aber auch darüber, wie sie im Vergleich zu früher dasteht. Betrachten wir diese Entwicklung seit der ersten MIPEX-Studie von 2004, stellen wir eine Stärkung der Rechte von Zugewanderten fest, speziell auf dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig verfolgt die Schweiz in Bereichen wie der Einbürgerung und dem Diskriminierungsschutz konsequent eine vergleichsweise restriktive Politik. Solche Vergleiche sind wichtig, denn sie können die Politik inspirieren, sich an Herangehensweisen und guten Beispielen in anderen Ländern zu orientieren. In diesem Sinn fördert MIPEX das Policy-Learning.
Migrationspolitik der Schweiz im Vergleich zur EU, 2019
Im Vergleich zu anderen Ländern sticht vor allem der konstant schwache Diskriminierungsschutz in der Schweiz heraus. Dieser Befund widerspiegelt die realen Verhältnisse in unserem Land und legt den Schluss nahe, dass der mangelhafte Schutz vor Diskriminierung politisch gewollt ist. Dass gesetzliche Lücken bestehen und Personen in der Schweiz diskriminiert werden, ist auch durch empirische Studien dokumentiert. Massnahmenvorschläge für einen besseren Diskriminierungsschutz liegen vor – und diese sind nicht einfach aus anderen Ländern «importiert», sondern stellen vielmehr massgeschneiderte Lösungen für die Schweiz dar.
Black Lives Matter hat in der Schweiz einige Denkanstösse gegeben und Veränderungen ausgelöst. Wir begrüssen die Debatte darüber, wie wir in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft gerecht umgehen wollen. Der MIPEX und empirische Studien zeigen auf sachliche Weise, dass unterschiedliche Politiken einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Integration von Migrant*innen haben. In Zusammenhang mit der Black Lives Matter-Thematik lässt sich aufgrund empirischer Hilfsmittel wie dem MIPEX feststellen, dass der im internationalen Vergleich sehr schwache Diskriminierungsschutz in der Schweiz die Bekämpfung von Ungleichbehandlungen erschwert. Das Ziel von vergleichenden Indizes soll unserer Meinung nach nicht sein, blind Politiken zu übernehmen, denn der Kontext und die Geschichte sind überall anders. Dies sollte aber kein Vorwand dafür sein, gar nichts zu tun, sondern vielmehr ein Ansporn für Politik und Wissenschaft, sich nach im hiesigen Kontext geeigneten Lösungsansätzen umzusehen – im Bereich des Diskriminierungsschutzes und darüber hinaus.
Gianni D’Amato ist Professor an der Universität Neuchâtel, Projektleiter und Direktor des nccr – on the move.
Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin und Vizedirektorin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel.
Didier Ruedin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien der Universität Neuchâtel und Leiter des nccr – on the move Projektes «Überwindung ungleicher Chancen durch Bildung».
Mehr Informationen zur Schweiz und MIPEX finden Sie auf der MIPEX Webseite.