Widersprüche in der Integrationsförderung: Ein Plädoyer aus der Praxis
In der Schweiz gibt es elf Kategorien von Aufenthaltstiteln für Personen ohne Schweizer Pass. Organisationen der Integrationsförderung befinden sich in einem Dschungel von Weisungen und Gesetzen. Die Gelder in der Integrationsförderung sind knapp und umstritten, die Abläufe kompliziert und verworren. Deshalb ist es wichtig, dass die Praxis eine Stimme hat. Ein Plädoyer für den Mut, zu sagen, was Sache ist.
Grundsätzlich wird zwischen Kurzaufenthaltsbewilligungen, Aufenthaltsbewilligungen (befristet) und Niederlassungsbewilligungen (unbefristet) unterschieden. Dann kommt es darauf an, ob man aus einem EU/EFTA-Staat (Europäische Union / Europäische Freihandelsassoziation) oder einem Drittstaat kommt, oder nach einer Flucht ein Asylgesuch gestellt hat. Jede Kategorie hat ihre eigenen Bestimmungen. So lautet bei der Anlaufstelle Integration Aargau (AIA) eine der ersten Fragen immer: Welchen Aufenthaltstitel haben Sie?
Der Weg von der Einreise in die Schweiz bis zu einem sicheren und nachhaltigen Aufenthaltstitel ist jedoch steinig, hat Klippen, Felsen, Brücken und tiefe Gräben. Auf diesem Weg gibt es viele Prüfungen. Wer seinen Status von F zu B, von B zu C oder von C zum Schweizer Bürgerrecht verändern – oder aufrechterhalten – will, muss einiges über sich ergehen lassen. Kostenpflichtige Tests müssen bestanden und Online-Fragebögen ausgefüllt werden. Aussenstehende wie Lehrerschaft und Arbeitgeber*innen berichten über Arbeitsverhalten und Sozialkompetenz.
Beamte prüfen auf sogenannte Schweizer Werte
Ein Beispiel: Ein Mann braucht für die Einbürgerung einen Schulbericht von seinem Sohn. In der Schule ist dieser oft unruhig und unkonzentriert. Die Lehrperson interpretiert dieses Verhalten als mangelnde Integration und hält das so im Bericht fest. Hat das unruhige Verhalten des Sohnes wirklich mit mangelnder Integration zu tun? Das zu beurteilen ist schwierig. Fakt ist: Die Beurteilung der Lehrperson hat weitreichende Folgen. Zusätzlich wird geprüft, ob die Sprachkenntnisse genügen, die wirtschaftliche Teilhabe ausreicht, ob nach Schweizer Werten gelebt, am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilgenommen wird. Gerade bei der Königsdisziplin des Einbürgerungsverfahrens kann die Prüfung groteske Ausmasse annehmen: Viele Beamte haben eine klare Vorstellung davon, wie ein Schweizer, eine Schweizerin zu sein hat. Man geht davon aus, dass es eine homogene Art gibt, wie in der Schweiz gelebt, geliebt, gearbeitet und gewohnt wird. In dieser Vorstellung sind Menschen in der Wohngemeinde in einem Verein, kaufen in der lokalen Bäckerei ihr Weggli und Besuchern aus dem Ausland wird der schöne Weiher im Ortbürgerwald gezeigt.
Viele Personen nehmen diese Kontrollen und Prüfungen auf sich, denn je nach Aufenthaltstitel sind die Voraussetzungen bei der Erwerbstätigkeit, im Gesundheitswesen, bei der Wohnsitznahme, beim Familiennachzug oder bei der Besteuerung besser oder wenigstens einfacher. Mit dem neuen Ausländer- und Integrationsgesetz verschärft sich diese Ausgangslage nochmals. Neu kann auch eine Rückstufung erfolgen. Wer die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, kann z.B. eine Niederlassungsbewilligung verlieren und auf eine Aufenthaltsbewilligung rückgestuft werden. In den Kantonen rauft man sich die Haare über diese neue Regelung, denn die Ressourcen für diese Kontrollen fehlen. Ressourcen, die in der Integrationsförderung dringend nötig sind.
Ressourcen werden in Kontrollen anstatt in die Sozialarbeit investiert
Es scheint, dass die Politik die Kontrolle als Instrument auch in der Sozialarbeit entdeckt hat. Aktuell sind in mehreren Kantonen – auch im Kanton Aargau – Postulate hängig, die eine generelle Kürzung der Sozialhilfe von 30% fordern. Nur wer beweist, dass er/sie sich anstrengt und alles daran setzt, keine Sozialhilfe mehr zu brauchen, bekommt 100% der Sozialhilfe. Sozialarbeitende in den Gemeinden werden also bei jedem Dossier Monat für Monat kontrollieren müssen, ob 100%, 90%, 83% oder doch nur 70% der Sozialhilfegelder ausbezahlt werden dürfen. Die gesamten Ressourcen würden in diese Kontrollen investiert und für die Sozialarbeit an sich bleibt nichts mehr übrig.
Gerade Institutionen in der Integrationsförderung sehen sich schon lange mit solchen aufwändigen – ja zuweilen paradoxen – Abläufen und Strukturen konfrontiert. Zum Beispiel: Mit dem Programm «Citoyenneté» der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) wird (zu Recht) die politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten gefördert, gleichzeitig werden jedoch die Einbürgerungshürden höher und die Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur nennt in einer Studie anlässlich des „Jahrs der Milizarbeit“ das Ausländer*innen-Stimmrecht als wichtige Massnahme für die Nachwuchsförderung in Gemeindeexekutiven. In der aktuellen politischen Situation ein Ding der Unmöglichkeit.
Integrationsgelder werden gestrichen
Ein weiteres Beispiel: Auf allen Ebenen werden Integrationsgelder gestrichen. Gleichzeitig werden die Prozesse immer komplizierter. So wird die lokale Integrationsförderung im Kanton Aargau in mehrstufigen, partizipativen Verfahren mittels Workshops mit allen Akteuren (Politik, Schule, Verwaltung, Vereine, Fachstellen, Polizeiwesen usw.) ausgeknobelt, damit zum Schluss Kleinstfachstellen entstehen (weil die Ressourcen eben dann doch nur spärlich fliessen), welche die hohen Erwartungen der vielen Beteiligten befriedigen sollten. Gerade in ländlichen Regionen entstehen so „One-women shows“ (solche Stellen werden grösstmehrheitlich von Frauen geleitet), welche mit minimalen finanziellen Mitteln alle Integrationsprobleme lösen sollten. Oder: Die Integrationsagenda Schweiz setzt einen starken Fokus auf Geflüchtete und das Asylwesen. Das ist gut. Weniger gut ist, dass länger Anwesende und Personen, welche im Familiennachzug oder über die Arbeitsmigration in die Schweiz kommen, kaum mehr Zugang zur Integrationsförderung haben. Für diese Personen müssen Massnahmen je länger je mehr aufwändigst über Stiftungen und Spenden finanziert werden.
Die Integrationsförderung ist umstritten. Deshalb ist es wichtig, dass Fachleute ihre Erfahrungen und Forderungen sachlich und fachlich kommunizieren und so im politischen Diskurs gehört werden. Über Dachorganisationen, Verbände oder im direkten Gespräch mit Entscheidungsträger*innen. Denn: Personen aus der Praxis wissen am besten, was Sache ist.