Wie viele «Sans-Papiers» gibt es überhaupt in der Schweiz?
Wenn Politiker*innen «Sans-Papiers» diskutieren, werfen sie mit allerlei Zahlen um sich. Das Staatssekretariat für Migration gab vor gut einem Jahr eine Studie in Auftrag, um herauszufinden, wie viele «Sans-Papiers» es überhaupt in der Schweiz gibt und was deren Profil ist. Dies ist offensichtlich kein einfaches Unterfangen, handelt es doch um Personen, die sich für längere Zeit ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten.
Auch wenn «Sans-Papiers» nicht ohne Weiteres in offiziellen Registern auftauchen, mussten wir – Forscher*innen des SFM, der Universität Genf und des B,S,S. – nicht völlig im Dunkeln tappen, sondern konnten uns auf konkrete Nachweise beziehen. Zum einen wurde die Zahl der «Sans-Papiers» vom gfs bereits 2005 ermittelt, auch wenn sich die legale, wirtschaftliche, und politische Situation seitdem wesentlich verändert hat. Zum anderen sind «Sans-Papiers» nicht völlig «unsichtbar»: Wir befragten 60 Behörden, Sozialpartner und Anlaufstellen in zwölf Kantonen und untersuchten Unterschiede in verknüpften Registerdaten, um Hinweise zu «Sans-Papiers» zu finden. Dank diesem mehrgleisigen Ansatz ist es möglich, die Zahlen auf deren Plausibilität zu prüfen.
Ein wesentliches Anliegen im Team war es, die Unsicherheit in Bezug auf die Zahl der «Sans-Papiers» hervorzuheben. So kommunizierten wir im Bericht eine Bandbreite und nicht eine einzelne Zahl. Die Grafik, die alles zusammenfasst, enthält mehrere Schätzungen sowie eine Wahrscheinlichkeitsverteilung aufgrund von Hochrechnungen. Alles andere schien uns unseriös.
Quelle: Morlok et al. 2015, S.2
Aus verknüpften Registerdaten ist es möglich, die Anzahl der «Sans-Papiers» zu schätzen, wobei gewisse Annahmen gemacht werden müssen. Diese ersten Schätzungen auf Basis der Sterbe- und Geburtendaten ergaben einen unteren und einen oberen Wert der Bandbreite, in welcher die Zahl der «Sans-Papiers» mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt. Diese Werte entsprechen mehr oder weniger den gemittelten Höchst- und Mindestwerten, die in den Fachgesprächen genannt wurden.
Fachgespräche waren die Hauptquelle für die zweiten Schätzungen und auch hier war es uns ein Anliegen, eine Bandbreite auszuloten. In den 60 Gesprächen versuchten wir nicht nur das Profil der «Sans-Papiers» zu eruieren, sondern fragten jeweils nach dem Minimum und Maximum an «Sans-Papiers» im jeweiligen Kanton. Interessant in diesen Gesprächen war, wie sich die Bezugsgrössen unterschieden: auf welche Art die Expert*innen von den ihnen bekannten «Sans-Papiers» extrapolierten. Erst nachdem wir die Situation und die Indizienlage besprochen hatten, fragten wir die Expert*innen nach ihrer «besten» Schätzung; das heisst, die Zahl die sie nennen würden, wenn sie sich festlegen müssten. Dadurch erhofften wir uns überlegte Schätzungen, und dass wir die Unsicherheit der Schätzungen bereits an der Quelle erfassen können.
Als letzter Schritt erfolgte die statistische Analyse des Mittelns und Hochrechnens, um auf Basis der zwölf effektiv untersuchten Kantonen Aussagen zur gesamten Schweiz machen zu können. In diesem Schritt mussten wir Annahmen dazu machen, mit welchen Faktoren die Anzahl der «Sans-Papiers» im Zusammenhang stehen könnte – dies geschah basierend auf Aussagen von Expert*innen, Hinweise in der Fachliteratur und den Untersuchungen der zwölf Kantone.
Unter dem Strich: Wie viele «Sans-Papiers» gibt es nun in der Schweiz? Wir wissen es nicht genau, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit sind es zwischen 60’000 und 100’000.
Didier Ruedin
Forscher am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien, Universität Neuchâtel, und Visiting Research Fellow am African Centre for Migration & Society, University of the Witwatersrand, Südafrika.
Sans-Papiers in der Schweiz
Die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats reichte am 26. Januar 2018 eine Motion ein, die eine kohärente Gesetzgebung zu «Sans-Papiers» fordert. Darin fordert sie unter anderen eine Zugangseinschränkung zu Sozialversicherungen, eine staatlich finanzierte Anlaufstelle im Krankheitsfall, verschärfte Strafverfolgung von Arbeitgeber*innen, Arbeitsvermittler*innen und Vermieter*innen von «Sans-Papiers», einen erleichterten Datenaustausch zwischen staatlichen Stellen sowie die Konkretisierung der Härtefallkriterien. Die Blog-Serie greift gewisse Elemente der Motion auf und diskutiert diese im Kontext von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Motion wurde am 18. Mai 2018 zurückgezogen.
Referenzen
- Longchamp, Claude et al. (2005). Sans Papiers in der Schweiz – Arbeitsmarkt, nicht Asylpolitik ist entscheidend. Bern: gfs.
- Morlok, Michael, Harald Meier, Andrea Oswald, Denise Efionayi-Mäder, Didier Ruedin, Dina Bader, and Philippe Wanner. (2016). Sans-Papiers in der Schweiz 2015. Bern: Staatssekretariats für Migration (SEM).