Wie würden Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz wählen?
Nach Luxemburg ist die Schweiz das europäische Land mit dem höchsten Ausländeranteil. Da die Schweiz nicht Teil der Europäischen Union ist, kennt sie bis auf wenige kantonale und kommunale Ausnahmen kein Wahlrecht für ausländische Personen. Die Folge davon ist, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung in der Schweiz von den politischen Prozessen weitgehend ausgeschlossen ist. Es gibt einige Bestrebungen in der Schweiz, diesen Zustand durch die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Ausländer*innen auf lokaler oder kantonaler Ebene zu ändern. Aber wie würden die Ausländer*innen in der Schweiz überhaupt wählen und abstimmen, wenn sie denn das Recht dazu hätten?
Ein möglicher Indikator für das Abstimmungsverhalten von Ausländer*innen sind ihre parteipolitischen Präferenzen. Abbildung 1 zeigt die Antworten von 8’070 Einwohner*innen der Schweiz auf die Frage nach der Partei, die ihnen am nächsten ist. Die Antworten stammen von Personen, die zwischen 2002 und 2020 an einer Umfrage des European Social Survey teilgenommen haben und angegeben haben, dass sie sich einer bestimmten Partei näher fühlen als allen anderen Parteien. Es ist dabei wichtig festzuhalten, dass die Mehrheit der Ausländer*innen (74%) sich gar keiner Partei speziell nahe fühlt, während dies bei den Schweizer*innen auf eine (substantielle) Minderheit (42%) zutrifft.
Ausländer*innen mit parteipolitischen Präferenzen bevorzugen linken Parteien
Unter den Befragten mit einer parteipolitischen Präferenz gaben viele an, sich der SP nahe zu fühlen. Dies trifft insbesondere auf die Ausländer*innen unter ihnen zu. Die Schweizer*innen identifizieren sich in ähnlichem Masse auch mit der SVP, während diese bei den Ausländer*innen deutlich weniger beliebt ist. Letztere fühlen sich hingegen deutlich häufiger den Grünen nahe, als dies bei den Schweizer*innen der Fall ist. Insgesamt identifizieren sich Ausländer*innen in der Schweiz mit einer parteipolitischen Präferenz also überproportional mit linken Parteien und verhältnismässig weniger stark mit der SVP.
Abbildung 1: Parteinähe nach Staatsbürgerschaft in Prozent
Parteipräferenzen unterscheiden sich je nach Staatsbürgerschaft
Die Daten des European Social Survey erlauben zudem eine Unterscheidung nach den wichtigsten Herkunftsländern. Abbildung 2 zeigt den Anteil an in der Schweiz wohnhaften Personen, die sich einer linken Partei nahe fühlen, aufgeschlüsselt nach Staatsbürgerschaft. Es zeigt sich, dass insbesondere Ausländer*innen aus den Nachbarländern sehr ähnliche Parteisympathien haben wie Schweizer*innen. Im Gegensatz dazu tendieren spanische und portugiesische Staatsbürger*innen stärker zu linken Parteien. Dasselbe gilt für Staatsangehörige eines Nachfolgestaates Jugoslawiens sowie für Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft.
Abbildung 2: Anteil linksorientierter Parteipräferenzen nach Staatsbürgerschaft
Ergebnisse anderer Studien
Unter anderem weil die grosse Mehrheit der im European Social Survey befragten Ausländer*innen keine Parteinähe angibt, bilden die oben dargestellten Daten ihr potentielles Wahlverhalten nur beschränkt ab. Deshalb sind die Resultate der wenigen ähnlichen Studien ein wichtiger Indikator für die Aussagekraft dieser Ergebnisse. Ein Vergleich mit einer Studie zur Wahlbeteiligung von Ausländer*innen bei den Kommunalwahlen im Jahr 2015 in Genf zeigt, dass diese sehr ähnlich wählten wie Schweizer*innen. Dies traf insbesondere auf Personen aus Nachbarstaaten der Schweiz zu, während Personen aus Portugal eher Sozialdemokrat*innen wählten. Aufgrund des kleinen Samples von Ausländer*innen, die an der Wahl teilgenommen haben, sind diese Zahlen allerdings ebenfalls mit einiger Unsicherheit behaftet. Doch auch Studien zum Wahlverhalten von Ausländer*innen in anderen westeuropäischen Ländern (zusammengefasst in Strijbis 2017 und 2021) zeigen, dass vor allem jene aus anderen EU-Staaten ähnlich wählen wie die Inländer*innen. Mehrere Studien bestätigen zudem, dass Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft überdurchschnittlich häufig Sozialdemokrat*innen wählen.
Schliesslich können wir die eingangs beschriebenen Parteipräferenzen von Ausländer*innen mit denjenigen von Schweizer*innen mit Migrationshintergrund vergleichen. Entsprechende Studien finden keinen bedeutenden Effekt bei einem westeuropäischen Migrationshintergrund. Personen mit einem türkischen oder (ex-)jugoslawischen Migrationshintergrund wählen hingegen öfter die SP.
Erklärungen für das (potentielle) Wahlverhalten von Migrant*innen
Wie erklären sich diese Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ausländer*innen und Schweizer*innen sowie zwischen Personen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen? In den letzten Jahren haben sich vor allem zwei Erklärungen herauskristallisiert. Erstens tendieren Personen mit Migrationshintergrund vor allem dann zu linken Parteien, wenn sie zu einer von rechtspopulistischen Parteien besonders negativ dargestellten Gruppe (z.B. aus der Türkei oder aus einem ex-jugoslawischen Land stammende Personen) gehören. Die positivere Haltung linker Parteien zu Migration dürfte ihnen hingegen die Sympathien dieser Personen einbringen.
Zweitens spielt die politische Sozialisierung im Herkunftsland eine wichtige Rolle. Am eindeutigsten nachgewiesen wurde dies für Migrant*innen aus (ehemals) kommunistisch regierten Staaten, welche deutlich weniger häufig linke Parteien wählen als Migrant*innen aus anderen Ländern.
Weniger bedeutend als oftmals angenommen sind hingegen die Schichtzugehörigkeit und Einstellungen zu Migrationsfragen. Nur ein geringer Anteil der Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund kann auf sozioökonomische Faktoren zurückgeführt werden. Überraschen mag auch, dass migrationspolitische Einstellungen Unterschiede nur sehr beschränkt erklären können. Gemäss einer Studie zum Abstimmungsverhalten von Schweizer*innen mit Migrationshintergrund bei der Abstimmung «gegen Masseneinwanderung» zum Beispiel, haben diese die Vorlage ähnlich stark befürwortet wie jene ohne Migrationshintergrund. Und selbst ein grosser Anteil der befragten Ausländer*innen ohne Stimmrecht gab an, dass sie dieser Initiative der SVP zugestimmt hätten.
Unterschiede sind weniger ausgeprägt als angenommen
Dieses Resultat illustriert die wohl wichtigste Erkenntnis aus der Analyse des Wahlverhaltens von wahlberechtigten Personen mit Migrationshintergrund und von Ausländer*innen ohne Wahlrecht: Im Grossen und Ganzen unterscheiden sich ihre politischen Präferenzen weniger stark von denjenigen von Schweizer*innen ohne Migrationshintergrund als oftmals angenommen.
Oliver Strijbis ist Professor für Politikwissenschaft an der Franklin University Switzerland und assozierter Forscher an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration, Ethnizität, Abstimmungen und Wahlen.
Literatur:
-Fibbi, Rosita, et Didier Ruedin. 2016. La participation des résidents étrangers aux élections municipales d’avril 2015 à Genève. Genève et Neuchâtel: Bureau de l’intégration des étrangers (DSE-OCPM) et Forum suisse pour l’étude des migrations et de la population (SFM), Université de Neuchâtel.
-Ruedin, Didier. 2010. Wie würden Personen ohne den roten Pass wählen: Wahlverhalten von Ausländerinnen und Ausländern. SFM – Forum suisse pour l’étude des migrations et de la population, Discussion Paper SFM 24: S. 1–12.
-Strijbis, Oliver and Javier Polavieja. 2018. “Immigrants against immigration: Competition, Identity and Immigrants’ Vote on Free Movement in Switzerland”, Electoral Studies 56, S. 150–157.
-Strijbis, Oliver. 2017. “Wenn AusländerInnen wählen und abstimmen dürften: Überlegungen anhand von aktuellen Umfragedaten”, S. 57–72 in Andreas Glaser (Hrsg.): Politische Rechte für Ausländerinnen und Ausländer? Schulthess Verlag.
-Strijbis, Oliver. 2021. “Citizenship, Migration, and Voting Behavior”, S. 284–302 in Marco Giugni und Maria Grasso (Hrsg.), Handbook of Citizenship and Migration, Edward Elgar Publishing.