Würden «Sans-Papiers» für eine kohärente Gesundheitspolitik stimmen?
Natürlich können «Sans-Papiers» nicht abstimmen und haben schon gar keine Lobby in Bern. Deshalb war meine erste spontane Reaktion auf den Vorstoss «Für eine kohärente Gesetzgebung zu Sans-Papiers» der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats eine Frage: Geht es allenfalls darum, von den wichtigen anstehenden Herausforderungen der Sozialversicherungspolitik abzulenken?
Jedenfalls lässt die Bezeichnung der Motion aufhorchen, denn so wünschenswert in der Politik kohärente Zielsetzungen sind, so vermessen ist der Kohärenzanspruch, wenn es um die Mittel geht.
Spannungsfeld zwischen Sozialrechten und Zuwanderungskontrolle
Die Sans-Papiers-Frage ist ein Paradebeispiel für eine paradoxe Realität: «Sans-Papiers» sollte es eigentlich nicht geben. Dass trotzdem Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung unter uns leben, wird inzwischen von Genf bis Zürich zur Kenntnis genommen. Inwiefern ihre Gegenwart einer globalisierten Wirtschaft, verfehlten Politik, dem Verschulden der Betroffenen oder grösseren Schicksalsschlägen anzulasten ist, wird zu Recht debattiert. Ältere (1) wie neue Studien zeigen auf, dass sich der Umgang mit «Sans-Papiers» in einem konstanten Spannungsfeld zwischen der Gewährung von Sozialrechten und migrationspolitischen Interessen der Staaten bewegt. Wer die Auflösung dieser Widersprüche findet, ohne etwa Kinderrechte der Migrationskontrolle unterzuordnen oder unbeschränkte Zulassung zu fordern, verdient den Nobelpreis. Denn alle bestehenden Vorkehrungen und Politikansätze sind tatsächlich ein Stück weit unbefriedigend, inkohärent, was übrigens für andere Politikfelder ebenfalls gilt.
Ein Blick über die Grenzen
Die Niederlande versuchten 1998 mit der Einführung des Verkoppelungsgesetzes (Koppelingswet), die irreguläre Migration von öffentlichen Dienstleistungen und Sozialversicherungen abzuschneiden, indem sie den Datenaustausch intensivierten und die Vergabe von Versicherungsnummern an «Sans-Papiers» unterbanden – wie es offenbar der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vorschwebt. Der weitgehende Ausschluss von öffentlichen Gütern führte zur Kumulation sozialer Problemlagen, zahlreichen Konflikten mit Gemeinden sowie Auseinandersetzungen mit Lehrpersonen und Gesundheitsfachleuten, die sich gegen die Meldepflicht an die Migrationsbehörden wehrten. In der Folge kam es zu langwierigen Aushandlungen von Kompromissen und der Errichtung von subventionierten Parallelstrukturen; von zivilgesellschaftlichen Protesten und der Abdrängung der Betroffenen in eine Schattenexistenz oder Delinquenz gar nicht erst zu sprechen (2), (3). Wie in der Schweiz haben «Sans-Papiers» in den Niederlanden wieder Anspruch auf Gesundheitsversorgung, obwohl sie nicht versichert sind. Ein Spezial-Gesundheitsfond wickelt die Finanzierung mit einigem administrativen Aufwand ab, wobei es zu beachten gilt, dass das niederländische Gesundheitssystem stark zentralisiert ist.
Ähnliche Vorstösse in Kantonen und auf Bundesebene
Auch in der Schweiz wurden immer wieder Voten laut, die in eine ähnliche Richtung zielten. So hielt 2013 der Walliser Erziehungsdirektor die Schulen an, Kinder ohne Aufenthaltsberechtigung den Behörden zu melden, um illegalem Aufenthalt entgegen zu wirken. Drei Jahre früher forderte Nationalrat Alex Kuprecht den Bundesrat auf, die Zugwanderten ohne Aufenthaltsrecht aus der Grundversicherung der Gesundheitsversorgung auszuschliessen (Motion 10.3203). Letzterer antwortete, dass eine solche Massnahme ein «Rückschritt» wäre, der eine «Lücke ins bestehende System der Grundversicherung reissen» würde. Diese Stellungnahme des Bundesrates wurde in der Folge durch diverse Nachforschungen gestützt, die aufzeigen, dass die Rechtslage zwar komplex und die Umsetzung anspruchsvoll, das System aber im Grundsatz zielführend ist (Schlussbericht «Krankenversicherung und Gesundheitsversorgung von Sans Papiers», Büro Vatter AG und Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates Heim (09.3484)).
Ein verbesserungswürdiges, aber bewährtes System
Ein Problem besteht zweifellos in der Höhe der Versicherungsprämien, die dazu führt, dass ein Grossteil der erwachsenen «Sans-Papiers» nicht krankenversichert ist, da die Betroffenen trotz beschränktem Einkommen meist keinen Zugang zu Prämienverbilligungen haben. Dies widerspricht zwar dem Solidaritätsprinzip der Sozialversicherung, ist jedoch kein Grund all jene von der Versicherung auszuschliessen, die Beiträge leisten. Schliesslich existieren bereits heute in mehreren Städten Gesundheitssprechstunden für Personen ohne Krankenversicherung, wohingegen umfassende Spezialvorkehrungen enormen administrativen Sonderaufwand und zusätzliche Kosten verursachen würden. In erster Linie gilt es zu vermeiden, dass «Sans-Papiers» Behandlungen aus Angst vor Aufdeckung aufschieben, bis sich ihr Gesundheitszustand zu einem schweren Notfall zuspitzt, was weder im Interesse der Gesamtgesellschaft noch der Betroffenen sein kann. In diesem Sinn hat sich die klare Trennung der Erbringung medizinischer Leistungen von der Einwanderungskontrolle durchaus bewährt. Wie eine internationale Vergleichsstudie zeigt, ist der universelle Zugang zur Gesundheitsversorgung auf Versicherungsbasis zwar verbesserungswürdig, stellt aber einen wesentlichen Vorteil des Schweizer Modells dar, weil es aufgrund seiner Flexibilität etablierte lokale Lösungen in den nationalen Rahmen der Sozialversicherung zu integrieren vermag; dies entspricht letztlich dem föderalistischen Gesundheitswesen optimal. Zu beachten ist, dass sich eine ähnliche Argumentation analog auf andere Sozialversicherungen und Vorkehrungen für «Sans-Papiers» übertragen lässt, denn die Motion fordert, dass auch die AHV/IV auf Personen mit geregeltem Aufenthalt beschränkt werde.
Denise Efionayi-Mäder
Soziologin und Vizedirektorin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel
Sans-Papiers in der Schweiz
Die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats reichte am 26. Januar 2018 eine Motion ein, die eine kohärente Gesetzgebung zu «Sans-Papiers» fordert. Darin fordert sie unter anderen eine Zugangseinschränkung zu Sozialversicherungen, eine staatlich finanzierte Anlaufstelle im Krankheitsfall, verschärfte Strafverfolgung von Arbeitgeber*innen, Arbeitsvermittler*innen und Vermieter*innen von «Sans-Papiers», einen erleichterten Datenaustausch zwischen staatlichen Stellen sowie die Konkretisierung der Härtefallkriterien. Die Blog-Serie greift gewisse Elemente der Motion auf und diskutiert diese im Kontext von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Motion wurde am 18. Mai 2018 zurückgezogen.
Referenzen
(1) Achermann, C., & Efionayi-Mäder, D. (2003). Leben ohne Bewilligung in der Schweiz: Auswirkungen auf den sozialen Schutz. Bern: Bundesamt für Sozialversicherung.
(2) Broeders, D., & Engbersen, G. (2007). «The Fight against Illegal Migration: Identifications Policies and Immigrants’ Counterstrategies.» American Behavioral Scientist, 50(12), 1952–1609.
(3) Buckel, S. (2011). «Urban Governance und irreguläre Migration: Städtische Politik als Handlungsraum im Konfliktfeld irreguläre Migration.» In F. Oliver & F. Koch (Eds.), Die Zukunft der Europäischen Stadt (pp. 246–262): Springer.