Ethnisches Differenzieren in der eingreifenden Street-Level Bureaucracy

18.06.2020 , ((No Comments))
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Auch in der Schweiz existieren Reformdebatten, die «Diversity Management» oder eine «interkulturelle Öffnung» der öffentlichen Verwaltung propagieren. Leitend ist die Annahme, dass ethnisch-kulturelle Unterschiede bei der Erbringung von Verwaltungsleistungen oder bei der Besetzung öffentlicher Stellen eine wichtige Rolle spielen. Wie aber werden in staatlichen Einrichtungen ethnisch-kulturelle Unterschiede hergestellt und mobilisiert?

Diese Frage stellt sich insbesondere für Abteilungen der öffentlichen Verwaltung, die mit Eingriffsmöglichkeiten ausgestattet sind und rechtsstaatliche Ansprüche durchsetzen können. Im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts untersuchten wir ein Jugendamt und die Sicherheitspolizei in zwei Schweizer Städten. Beide Einrichtungen zeichnen sich durch einen ausgeprägten persönlichen Kontakt zur Bevölkerung aus und können gemäss Michael Lipsky (1980) als typische Street-Level Bureaucracies gelten. Sie erbringen Dienstleistungen auf freiwilliger Basis, intervenieren aber auch hoheitlich – das Jugendamt dann, wenn es im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) handelt.

Dynamisches Spiel ethnisierender Praktiken

Im beruflichen Alltag der beiden untersuchten Verwaltungsorganisationen wird eine Vielfalt ethnischer Unterscheidungen vorgenommen. Formen, Ausprägungen und die Relevanz ethnischen Kategorisierens können stark variieren. Je nach Situation werden ethnische Aspekte auch abgeschwächt oder ignoriert. Nur in seltenen Fällen verfügen die untersuchten Organisationen über formalisierte oder explizite Deutungen und Verfahrensweisen im Umgang mit Ethnizität. Unsere ethnografischen Fallstudien zeigten, dass das Verwaltungspersonal in der Interaktion mit seinem Gegenüber vielmehr über beachtliche Ermessenspielräume verfügt. Gleichzeitig stellten wir fest, dass ethnische Differenzen in Abhängigkeit von organisationalen Zielen, Arbeitssettings und Arbeitsvorgängen relevant gemacht oder aber verwischt oder übergangen werden: Während wir in Klientengesprächen des Jugendamtes und in der direkten Interaktion mit der Kundschaft am Polizeischalter und in der Notrufzentrale kaum Ethnisierungen beobachteten, konnten diese bei Fallzuteilungen im Jugendamt (Abstimmung Sozialarbeitende / Klientel), bei patrouillierenden Polizeieinheiten und in Einvernahmen eine wichtige Rolle spielen.

Wir stellten fest, dass ethnische Differenzierungen von der beruflichen Rolle und abteilungsspezifischen Aufgabe beeinflusst werden. Ethnisierende Praktiken verschränken sich im Arbeitsalltag mit sozialarbeiterischen und polizeilichen Arbeitskategorien und mit der Herstellung institutioneller Rollen von Verwaltungsmitarbeitenden sowie von Normadressat*innen.

Nexus von Eingriffsqualität und ethnisierender Praktiken

Erst vor dem Hintergrund dieser komplexen Dynamik lassen sich in der eingreifenden Street-Level Bureaucracy deutliche Muster des ethnischen Differenzierens erkennen. In der Interaktion mit zivilen Akteur*innen verschränken sich Praktiken des (Nicht-)Ethnisierens mit der jeweiligen Art staatlicher Eingriffsautorität. Sowohl das Jugendamt wie auch der Polizeidienst gestalten ihre Interventionen so, dass sich die gestellten Aufgaben in der jeweiligen organisationalen Logik möglichst produktiv erledigen lassen.

Wir beobachteten, wie das Jugendamt den autoritativen Eingriff gegenüber seiner Klientel durch vielfältige Kooperations- und Beziehungsangebote kommunikativ verschleiert, während sich Polizeiabteilungen wie die Uniformpatrouille und ermittelnde Einheiten zu ihrer hoheitlich-repressiven Rolle bekennen. Anders sieht es bei der Schalterpolizei und Notrufzentrale aus: Sie präsentieren sich gegenüber ihrer Kundschaft als öffentlichen Dienst. Wie auch im Jugendamt, erfordert die Erbringung der Arbeitsleistung in diesen Polizeieinheiten einen aktiven Einbezug des Gegenübers. Bei der Dienstleistungsarbeit durch die Polizei spielen Kooperation, Beziehungs- und Vertrauensarbeit eine zentrale Rolle, je nach Situation aber auch bei Aufgaben der Polizeipatrouille und in Einvernahmen, die der autoritativen Sicherheits- und Ordnungsproduktion dienen. Ob und welche Bedeutung Praktiken des Ethnisierens zukommt, ist also davon abhängig, ob die eingreifende Verwaltung sich als Dienstleistung oder als autoritative Sicherheits- und Ordnungsproduktion vollzieht.

Ethnisierungen in der Dienstleistungs- und Ordnungsproduktion

In dienstleistungsorientierten Abteilungen wie dem Jugendamt, der Schalterpolizei und der Notrufzentrale werden ethnische Unterschiede tendenziell verwischt. Ethnisierungen vorzunehmen, scheint sich hier auf die Arbeitsbeziehung und auf den Arbeitsvollzug kontraproduktiv auszuwirken. Nicht zu Ethnisieren hilft, die organisationalen Widersprüche zu bewältigen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen Dienstleistungsproduktion und staatlichem Eingreifen ergeben und den Dienstleistungscharakter trotz autoritativem Anspruch (Deutungshoheit, Kontrolle des Gesprächsverlaufs) aufrecht zu erhalten. So kann die institutionelle Mächtigkeit der Verwaltung bei gleichzeitigem Servicecharakter durchgesetzt werden.

Demgegenüber beobachteten wir bei den der autoritativen Sicherheits- und Ordnungsproduktion zugerechneten patrouillierenden und ermittelnden Polizeieinheiten situative ethnische Zuschreibungen. Wir stellten fest, dass Ethnisierungen in Interaktionen dann mobilisiert werden, wenn sie für das jeweilige polizeiliche Vorgehen als hilfreich oder effektiv gehalten werden. Damit lässt sich z. B. polizeiliche Eingriffsautorität unterstreichen. Insofern patrouillierende und ermittelnde Polizeieinheiten ein kooperatives Verhältnis zum Gegenüber etablieren müssen, kann aus taktischen Überlegungen ebenfalls auf Ethnisierungen zurückgegriffen werden. Auch hier muss staatliche Autorität austariert werden, was u. a. unter Rückgriff auf Ethnizität geschehen kann. Mit Ethnisierungen lässt sich in solchen Situationen Nähe trotz staatlicher Autorität schaffen, um die Kooperationsbereitschaft von Zeugen, Verdächtigten oder Beschuldigten zu fördern.

Instrumentelle Logik ethnischen Differenzierens

In der eingreifenden Street-Level Bureaucracy dienen Praktiken des (Nicht-)Ethnisierens dazu, die staatliche Eingriffsautorität möglichst auftrags- und situationsadäquat abzustimmen. Die Kontakt- und Beziehungsqualität zwischen der eingreifenden Street-Level Bureaucracy und ihrem zivilen Gegenüber wird so reguliert, dass Arbeitsprozesse möglichst zielführend ausgestaltet werden können. Insofern folgt das dynamische Spiel ethnisierender Praktiken einer instrumentellen Logik. Ethnisch-kulturelle Differenzierung bildet aber bloss eine von vielen möglichen Markierungen, die auch in Bezug auf Geschlecht, Beruf oder Lebensstil vorkommen können. Finden Ethnisierungen statt, bleiben diese für Adressatinnen und Adressaten aber schwer einschätzbar und undurchsichtig. Klarer zeigt sich hingegen, dass auch im 21. Jahrhundert Ethnizität ein wirkmächtiges Ordnungsprinzip staatlichen Handelns bleiben dürfte.

Esteban Piñeiro ist Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz

Martina Koch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz.

Nathalie Pasche ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz

Literatur:

– Piñeiro, Esteban/Koch Martina/Pasche, Nathalie. Un/doing Ethnicity im öffentlichen Dienst. Ethnografien zum ethnischen Differenzieren am Beispiel von Jugendamt und Polizei. Zürich: Seismo (in Vorbereitung).

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