Wieviel Laboratorium verträgt die Umsetzung des Migrationsrechts in einem föderalistischen Staat?

19.12.2019 , in ((Migrationspolitik)) , ((No Comments))

Die Umsetzung von ausländer- und asylrechtlichen Bundesbestimmungen durch die Kantone ist durch das Spannungsfeld zwischen kantonalen Handlungsspielräumen und verbindlichen Grundrechten bzw. völkerrechtlichen Verpflichtungen geprägt. Das föderalistische System wird häufig mit einem Laboratorium verglichen, in dem unterschiedliche Strategien «ausgetestet» und die vor Ort bestmöglichen Praktiken formuliert werden können. Aber: Wie viel Laboratorium verträgt die Umsetzung migrationsrechtlicher Bestimmungen?

Als die Eidgenössische Migrationskommission EKM das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien 2010 beauftragte, erstmals die Umsetzung ausländerrechtlicher Bestimmungen in den Kantonen zu untersuchen, war voraussehbar, dass Unterschiede in der Praxis der Kantone zutage gefördert würden. Denn die Spielräume, die in föderalistischen Staaten den Gliedstaaten bzw. den Kantonen in ihrem jeweiligen hoheitlichen Handeln zustehen, werden von diesen durchaus genutzt. Diese Studie (Wichmann et al. 2011) untersuchte erstmals systematisch, wie die 26 Kantone in vier migrationspolitischen Teilbereichen bundesrechtliche Vorgaben umsetzen.

Die Analyse zeigte, dass der Urbanitätsgrad eines Kantons ausschlaggebend dafür ist, wie inklusiv bzw. restriktiv die Bestimmungen umgesetzt werden. Ausserdem beeinflusst das in einem Kanton vorherrschende migrationspolitische Klima das Handeln der Behörden. Diese Befunde wurden auch in der aktuellen Studie «Kantonale Spielräume im Wandel» (Probst et al. 2019), die erneut die Praktiken der kantonalen Behörden in den Fokus nahm, bestätigt: Eine typisch urbane und migrantisch geprägte Bevölkerungszusammensetzung begünstigt die Herausbildung einer inklusiven Praxis. Umgekehrt wird in stärker ländlich geprägten Kantonen eine tendenziell restriktive Praxis angewendet.

Migrationspolitischer Mehrheitswille oder Respektierung der Grundrechte?

Wie sehr darf sich ein Kanton von dessen migrationspolitischen Klima leiten lassen? Soll der Mehrheitswille im Vordergrund stehen oder gilt es nicht auch, Grundrechte, etwa das Recht auf Familienleben oder den Schutz vor Diskriminierung, sicherzustellen? Wie viel Laboratorium ist hinsichtlich der Respektierung der Grundrechte überhaupt zulässig? Weiter stellt sich die Frage, wer im Falle einer Harmonisierung der Praxen darüber entscheidet, welche der im Laboratorium ausgetesteten Lösungen die bestmögliche ist.

Diese Fragen wurden zum Abschluss des 4. «Dialoges unter Fachpersonen» vom 16. Oktober 2019 in Bern in einer Podiumsdiskussion erörtert. Eine Antwort darauf, wie im Spannungsfeld zwischen migrationspolitischem Mehrheitswillen und Respektierung von Grundwerten adäquat gehandelt werden könne bzw. solle, konnte die Diskussion nur teilweise liefern. So wurde etwa angeführt, dass der Handlungsspielraum gar nicht so gross sei, denn die politischen Leitlinien in der Schweiz seien gesetzt: Das duale Zulassungssystem etwa gestatte nur im Bereich von Drittstaatsangehörigen tätig zu werden. Die grosse Mehrheit der Personen wandere aufgrund der Regeln des Freizügigkeitsabkommens zu, und da dürften ohnehin keine spezifischen Anforderungen an die einzelnen Individuen, etwa bei der Gewährung des Familiennachzugs, gestellt werden. Immerhin böten Ansätze wie die Einführung von kantonalen Integrationsprogrammen, wo der Bund einen gewissen Gestaltungswillen in konkreten Bereichen der spezifischen Integrationsförderung an den Tag lege, die Möglichkeit Mindestanforderungen festzulegen – etwa beim Diskriminierungsschutz. Obwohl den Kantonen bei der Ausgestaltung der Programme ein gewisser Spielraum zugestanden werde, seien die Grundzüge jedoch überall gleich – und im Übrigen gemeinsam von Bund und Kantonen entwickelt worden.

Welcher Einfluss des «Selbstbestimmungsföderalismus» auf die soziale Kohäsion?

Die Studie von Probst und ihren Mitautor*innen untersucht die Umsetzung bundesrechtlicher Bestimmungen in den Kantonen. Nicht im Fokus standen die so genannten Regelstrukturen, die zu einem wesentlichen Teil in der Hoheit der Kantone stehen: die Bildungseinrichtungen, das Gesundheits- oder Sozialwesen (siehe auch Thomas Mingers Beitrag zu dieser Serie). Sie haben wahrscheinlich einen weit grösseren Einfluss auf die Integration von Zugewanderten als beispielsweise die vom Bund mitfinanzierte spezifische Integrationsförderung. Es wäre deshalb für zukünftige Forschungen von grossem Interesse, auch einmal die Institutionen des «Selbstbestimmungsföderalismus», wie er auch genannt wird, unter die Lupe zu nehmen und zu fragen, welche Wirkung eine eher inklusive bzw. restriktive Praxis in den Regelstrukturen auf den einzelnen Menschen, aber auch auf die gesamte soziale Kohäsion in einem Kanton hat.

Nachlese zur Podiumsdiskussion am 4. «Dialog unter Fachpersonen» vom 16. Oktober 2019

Simone Prodolliet ist Geschäftsführerin des Sekretariates der Eidgenössischen Migrationskommission und hat die in diesem Beitrag erwähnte Podiumsdiskussion moderiert.

Referenzen:
– Probst, Johanna, Gianni D’Amato, Samantha Dunning, Denise Efionayi-Mäder, Joëlle Fehlmann, Andreas Perret, Didier Ruedin und Irina Sille (2019). Kantonale Spielräume im Wandel: Migrationspolitik in der Schweiz. Neuchâtel: Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien.
– Wichmann, Nicole, Michael Hermann, Gianni D‘Amato, Denise Efionayi-Mäder, Rosita Fibbi, Joanna Menet und Didier Ruedin (2011). Gestaltungsspielräume im Föderalismus: Die Migrationspolitik in den Kantonen. Bern: Eidgenössische Migrationskommisssion EKM.

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