Anti-Diskriminierung im Spannungsfeld von Zulassung und Teilhabe

17.12.2019 , in ((Politique migratoire)) , ((Pas de commentaires))

In den vergangenen Jahren haben sich Migrations- und Integrationspolitik zusehends verschränkt. Das führt nicht zwingend zu einer kohärenteren Praxis. Im Bereich der Diskriminierungsbekämpfung tun sich vielmehr neue Widersprüche und Herausforderungen auf.

Migrations- und Integrationspolitik haben sich in den vergangenen Jahren zusehends verschränkt. Dieser Entwicklung folgend, heisst das bisherige Ausländergesetz (AuG) seit dem 1. Januar 2019 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Das ist bemerkenswert, weil Migrations- und Integrationspolitik in einem latenten Spannungsfeld unterschiedlicher Zielsetzungen und Interessen stehen. Integrationspolitik als Teilhabepolitik will Partizipation ermöglichen, wo nötig aktiv fördern und Zugangshindernisse abbauen. Migrationspolitik legt als Zulassungspolitik dagegen Bedingungen des rechtmässigen Aufenthalts fest und sorgt damit auch für Zugangsschranken.

Schon 2010 hat die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) auf das Risiko eines zulassungspolitisch verengten Integrationsverständnisses hingewiesen. Im politischen Kräftemessen zwischen Teilhabe- und Zulassungspolitik werden zulassungspolitische Überlegungen trotzdem zusehends stärker gewichtet. So beschränkt sich die Integrationspolitik gemäss AIG ausdrücklich auf rechtmässig anwesende Ausländer*innen. Deren Aufenthaltsstatus ist wiederum an im AIG formulierte Integrationskriterien gebunden.

Individuelle Auswirkungen migrationspolitischer Anreize

Das mit dem AIG postulierte Stufenmodell verknüpft die individuelle Integration mit einer aufenthaltsrechtlichen Besserstellung. Die «Anforderungen an die Integration», so der Bundesrat (2016) in seiner Botschaft zum AIG, «sind umso höher anzusetzen, je besser der ausländerrechtliche Status der betroffenen Personen ist.» In der Praxis bedeutet dies: Die Integration ist eine Voraussetzung für einen besseren Aufenthaltsstatus. Dahinter steht ein Anreizmodell, welches individuelle Integrationsleistungen mit einer aufenthaltsrechtlichen Besserstellung belohnt.

Die Politik sah die Wirkungszusammenhänge nicht immer so. In den 1910er-Jahren betonten Bundesbehörden gerade das Gegenteil und verstanden die rechtliche Besserstellung – konkret die Einbürgerung – als Anreiz für individuelle Bemühungen (Argast 2007). Die Vorstellung, dass die Einbürgerung nicht eine Belohnung, sondern im Gegenteil ein Druckmittel zur Förderung individueller Bestrebungen sei, war in Fachkreisen weit verbreitet (Wicker et al. 2013).

Wir wissen, dass ein unsicherer Aufenthaltsstatus die individuelle Integration behindern kann. Praktiker*innen aus Beratungsstellen berichten immer wieder von Betroffenen, bei denen staatliches «Fordern» zu Fehlanreizen führt, die dem «Fördern» zuwiderlaufen. Auch ich treffe in meiner Beratungstätigkeit immer wieder auf Menschen, die aus Furcht vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen damit hadern, bei akuten Problemlagen staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Das ist aus mehreren Gründen integrationspolitisch unerwünscht. Zum einen erhalten die Betroffenen die aus fachlicher Sicht nötige Unterstützung erschwert oder zu spät. Im Bereich der Schuldenberatung etwa führt dies nicht selten zu einer Verschlimmerung der anfänglichen Problemstellung. Zum anderen wird damit der Regelstrukturansatz unterlaufen. Es besteht das Risiko, dass Betroffene informelle Lösungen bevorzugen, statt an bestehende (Regel)Angebote zu gelangen.

Was für Personen mit einem vollen Bildungsrucksack, guten Arbeitsmarktchancen und einem persönlichen Netzwerk als Anreiz wirkt, kann auf andere mit weniger begünstigenden Lebenslagen die gegenteilige Wirkung haben. Es ist zu hoffen, dass die künftige Migrationspolitik Anreizsysteme differenziert ausgestaltet, damit diese idealerweise dort am stärksten integrationsfördernd wirken, wo es am meisten nötig ist. Für die Anti-Diskriminierungsarbeit wäre es fatal, wenn migrationspolitisch motivierte Integrationsanreize Personen in verletzlichen Lebenslagen künftig verstärkt auf negative Weise treffen und ihre Integrationschancen verschlechtern würden.

Schieflage bei der Forderung nach Verbindlichkeit

Ein Grundpfeiler der hiesigen Integrationspolitik ist der oben erwähnte Regelstrukturansatz. Bund, Kantone und Gemeinden haben die Anliegen der Integration bei der Erfüllung ihrer (regulären) Aufgaben zu «berücksichtigen» und «günstige Rahmenbedingungen» zu schaffen [Art. 53 AIG]. Zudem formuliert das Gesetz konkrete Kriterien, die bei der Prüfung der individuellen Integration von Ausländer*innen zu beachten sind und deren Nichterfüllung zu aufenthaltsrechtlichen Sanktionen führt [Art. 58a AIG]. Rechtsanwendende Behörden verstehen Integration entsprechend tendenziell als anhand überprüfbarer individueller Integrationsleistungen messbar. Dem steht die Auffassung gegenüber, wonach Integration als dynamischer Prozess über individuelle Leistungen hinausgeht und ebenso von «günstigen Rahmenbedingungen» abhängt.

Auf die Integrationsarbeit innerhalb der Institutionen haben beide Verständnisse einen Einfluss, was bisweilen zu einer Schieflage in punkto Verbindlichkeit führt. So gehört es zur Aufgabe vieler Integrationsstellen mit Integrationsanliegen beratend, sensibilisierend und motivierend auf Regelstrukturen wie beispielsweise Einwohnerdienste, Berufsberatung oder Bildungsinstitutionen zuzugehen. Für gewisse Regelstrukturen weitaus verbindlicher sind ihre gesetzlichen Meldepflichten an die Migrationsämter, etwa im Falle des Bezugs von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV.

In Regelstrukturen auf günstige Rahmenbedingungen für die Integration hinzuwirken, wenn von diesen gleichzeitig gegenüber bestimmten Gruppen und Personen Verdachtsmomente zu prüfen sind, ist anspruchsvoll (Bischof 2018). Generelle Verdachtsmomente haben ein Diskriminierungspotential, etwa wenn sie sich auf unterhinterfrage Normvorstellungen stützen (z.B. bei Verdacht auf eine «Scheinehe»). Wir wissen aus der jüngsten Zeitgeschichte, welche fatalen Auswirkungen behördlichen Normvorstellungen auf individuelle Biografien haben können (UEK Administrative Versorgungen 2019).

Diskriminierungsbekämpfung: Ungünstige Rahmenbedingungen

Auch wenn nur ein geringer Anteil der Mittel für die Kantonalen Integrationsprogramme (KIP) dafür aufgewendet wird, hat die Bekämpfung rassistischer Diskriminierung in den letzten Jahren an Gewicht gewonnen. Aufgebaut wurden insbesondere Beratungsstrukturen für Direktbetroffene und Sensibilisierungsaktivitäten. Die verbesserte beratende Unterstützung von Direktbetroffenen ist wichtig, jedoch mit ungünstigen Rahmenbedingungen konfrontiert. So ist der Zugang zu Rechtsmitteln bei rassistischer Diskriminierung nach wie vor erschwert [es besteht kein etablierter Diskriminierungsschutz im Privatrecht] und strukturelle Benachteiligungen lassen sich mit individueller Beratung Direktbetroffener nur schwer beseitigen [es fehlt beispielsweise ein Verbandsklagerecht] (siehe Kälin et al. 2016). Zudem sind Diskriminierung und insbesondere Rassismus nach wie vor tabuisierte Themen, was zu einem entsprechend vorsichtigen Vorgehen in der Anti-Rassismusarbeit innerhalb der Regelstrukturen führt. Da in der Praxis nur fördernde Ansätze umsetzbar sind, wird hier nur wenig gefordert.

Wurde in der Integrationspolitik in den vergangenen Jahren auf mehr Verbindlichkeit hingewirkt, so ist künftig darauf zu achten, dass diese nicht vorwiegend gegenüber Zugezogenen eingefordert wird. Für Verbindlichkeit ist insbesondere innerhalb der Regelstrukturen zu sorgen – gerade im Bereich der Diskriminierungsbekämpfung.

Michael Bischof ist Projektleiter und stv. Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich. Er leitet unter anderem Projekte im Bereich Diskriminierungsschutz.

Referenzen:

– Argast, Regula (2007). Staatsbürgerschaft und Nation: Ausschliessung und Integration in der Schweiz 1848–1933. Göttingen, 215.
– Bischof, Michael (2018). Widersprüchliche Realitäten. Integrationsförderung und Rassismusbekämpfung – zwei Seiten derselben Medaille? In: TANGRAM 42, 42 – 45.
– Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen EKM (2010). Integration als Hinführung zu Chancengleichheit oder als Gradmesser für Sanktionen? Grundsatzerklärung und Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen. Bern: EKM.
– Kälin, Walter et al. (2016). Der Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen. Synthesebericht. Bern: Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR).
– Schweizerischer Bundesrat (2016). Zusatzbotschaft zur Änderung des Ausländergesetzes (Integration) vom 4. März 2016. BBl 2016 2834. Bern.
– UEK Administrative Versorgungen (Hg.) (2019). Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht. Zürich: UEK.
– Wicker, Hans-Rudolf et al. (Hg.) (2013). Migration und die Schweiz. Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms «Migration und interkulturelle Beziehungen». Zürich.

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