«Délit de solidarité» – Ab wann ist Hilfe für Migrant*innen strafbar?

17.05.2018 , in ((Bonnes pratiques)) , ((Pas de commentaires))

In den letzten Tagen haben verschiedene Medien die Geschichte von drei jungen Schweizer*innen verbreitet, die in Frankreich verhaftet wurden, weil sie im Rahmen einer Demonstration 30–40 Migrant*innen über die italienisch-französische Grenze gebracht haben sollen. Besteht ein Zusammenhang mit dem sogenannten «délit de solidarité», das vor kurzem im französischen Parlament behandelt wurde? Worum geht es dabei? Und, gibt es solche Rechtsnormen auch in der Schweiz?

Zur Rechtslage in Frankreich

In Frankreich regelt der Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile(CESEDA) in Art. L.622-1, dass jede Person, die durch direkte oder indirekte Hilfe die illegale Einreise, den illegalen Transport («circulation») oder den illegalen Aufenthalt einer ausländischen Person in Frankreich erleichtert oder zu erleichtern versucht, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren oder mit einer Geldbusse von bis zu 30 000 Euro bestraft wird. Nach Art. L.622-5 umfasst die Strafe sogar bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe bzw. bis zu 750 000 Euro Busse, wenn die Tat durch eine organisierte Bande begangen wird.

Nach Art. L.622-4 wird nicht strafrechtlich verfolgt, wer Familienangehörige oder Familienangehöriger einer ausländischen Person ist und deren illegalen Aufenthalt erleichtert oder wenn die Handlung nötig war, um eine aktuelle oder unmittelbare Gefahr für das Leben oder die physische Integrität einer ausländischen Person abzuwenden. Ausnahme: Wenn die Wahl der Massnahme im Vergleich zur Schwere der Gefahr unverhältnismässig war oder eine direkte oder indirekte Gegenleistung entrichtet wurde.

Ein «délit de solidarité» gibt es somit nicht. Es handelt sich vielmehr um einen umgangssprachlichen Begriff, der sich im Gesetz an keiner Stelle wiederfindet und der 1995 von der französischen «Groupe d’information et de soutien des immigrés (Gisti)» erstmals verwendet wurde.

Die französische «Assemblée nationale» hat im April 2018 in erster Lesung eine Gesetzesänderung angenommen, nach der der illegale Transport von Migrant*innen nicht mehr strafbar sein soll. Auch die Beratung oder Begleitung von Ausländer*innen (insbesondere Rechtsberatung, Übersetzungsdienstleistungen oder Sozialarbeit) oder die Vergabe von Essen, das Gewähren von Unterkunft oder medizinische Hilfe, die menschenwürdige Lebensbedingungen von Migrant*innen gewährleisten sollen, soll von der Ausnahme erfasst sein. Dies gilt allerdings ebenfalls nur, wenn keine Gegenleistung entrichtet wurde.

Was droht den Schweizer*innen?

Für die drei Schweizer*innen, die Migrant*innen über die Grenze geholfen haben sollen, macht dies jedoch keinen Unterschied, da sie der Beihilfe zur illegalen Einreise bezichtigt werden. Dafür würde die Gesetzesänderung nicht gelten. Entscheidend dürfte hier sein, ob das Gericht annimmt, dass die Schweizer*innen eine Bande gebildet haben. Dies erscheint jedoch unwahrscheinlich, da sich die drei nicht für eine gewisse Dauer zusammengeschlossen haben, um (mehrere) Straftaten zu begehen. Zudem spielen bei der Strafzumessung Faktoren wie Vorverurteilungen und das Alter und Verhalten der Angeklagten eine Rolle. Bei einem ersten strafrechtlich relevanten Verhalten wird in der Regel eine Geldstrafe verhängt, die in Frankreich auch zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Zum Vergleich: Der Bauer Cédric Herrou wurde 2017 für die Erleichterung der illegalen Einreise von ca. 200 Migrant*innen zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Zur Rechtslage in der Schweiz

Auch das schweizerische Ausländergesetz (AuG) kennt in Art. 116 den Tatbestand der «Förderung der rechtswidrigen Einreise, Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts». Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, wer im In- oder Ausland einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft. Wenn die Täterin oder der Täter mit der Absicht handelt, sich oder eine andere Person unrechtmässig zu bereichern oder für eine Vereinigung oder Gruppe handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung dieser Tat zusammengefunden hat, ist das Strafmass höher.

Art. 116 AuG ist für eine Strafnorm eigentlich zu unbestimmt. Nach dem Legalitätsprinzip muss nämlich ein Straftatbestand für alle klar erkennen lassen, was das Delikt ist und welche Strafe droht. Daher müssen die Begriffe «erleichtern» und «vorbereiten» nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts – die durch ein Gutachten von Prof. Regina Kiener und Lucie Von Büren gestützt wird – so ausgelegt werden, dass es erforderlich ist, dass der oder die Täter*in den behördlichen Zugriff auf den oder die Ausländer*in in irgendeiner Weise erschwert hat (in der Regel durch Verstecken der entsprechenden Person). Daraus sowie aus Art. 10 und 12 BV ergibt sich, dass medizinische Hilfeleistungen oder die Rechtsberatung von «Sans-Papiers» nicht strafbar sein können.

Im Fall, den das Bundesgericht 2004 zu beurteilen hatte, war eine Schweizerin nach dem damals noch geltenden Bundesgesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern (ANAG) zu einer Geldbusse von 300 Franken verurteilt worden, weil sie einen Migranten ca. drei Monate bei sich beherbergte.

Für Schlagzeilen sorgte auch der Fall der Tessiner Grossrätin Lisa Bosia Mirra. Sie wurde 2017 zu einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 110 Franken sowie einer bedingten Busse von 1 000 Franken verurteilt, weil sie geholfen hatte, Migrant*innen von Italien ins Tessin zu bringen.

Bewertung

Die strafrechtliche Verfolgung der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts von Migrant*innen ist in Europa Normalität. Auch die EU-Rückführungsrichtlinie, die aufgrund der Schengen-Assoziierung auch für die Schweiz bindend ist, steht dem nicht entgegen, solange keine Freiheitsstrafe verhängt wird, die das Rückkehrverfahren unnötig verzögert.

Aber nicht nur der oder die Migrant*in macht sich strafbar: Auch die Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt kann in der Regel strafrechtlich sanktioniert werden, was NGOs und Zivilpersonen, die Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus helfen, in eine schwierige Situation bringt. Dies ist insbesondere im Mittelmeerraum, wo NGOs Seenotrettungsaktionen durchführen und die geretteten Migrant*innen zumeist auf europäischen Boden bringen, immer wieder ein Thema. Schon oft wurde gefordert, diese Delikte abzuschaffen bzw. zumindest entsprechende Ausnahmen für humanitäre Akteure vorzusehen, wie dies kürzlich in Frankreich geschehen ist. Auch das Protokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sieht eine solche Ausnahme vor, indem es in Art. 3a bei der Definition der «Schleusung» das Ziel, sich einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen, voraussetzt.

Diese Klarstellung sollte sich auch in den nationalen Normen zum Ausländerstrafrecht widerspiegeln. Wer einem oder einer Migrant*in in einer Notsituation hilft, sollte nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Sarah Progin-Theuerkauf
Projektleiterin, nccr – on the move, Universität Freiburg

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