Der Schengen-Raum
Zur Bewältigung der «Flüchtlingskrise» haben mehrere EU-Mitgliedstaaten Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wieder eingeführt. Teilweise wurde bereits das «Ende von Schengen» prognostiziert. Was genau ist eigentlich der Schengen-Raum?
Grundlage des Schengen-Raums bilden das 1985 zwischen Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten geschlossene Schengener Abkommen sowie das 1990 abgeschlossene Schengener Durchführungsübereinkommen. Diese hatten insbesondere das Ziel, systematische Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes abzuschaffen. Gleichzeitig wurden die Kontrollen an den Aussengrenzen verstärkt sowie weitere Massnahmen zur Eindämmung des durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen entstehenden Sicherheitsdefizits umgesetzt. So wurde zum Beispiel das Schengener Informationssystems errichtet, ein Schengen-Visum eingeführt und Regelungen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität verabschiedet. Mit dem Amsterdamer Vertrag (1999) wurde die Schengen-Zusammenarbeit in den rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU integriert. Grosse Teile des Schengen-Rechts wurden dabei «vergemeinschaftet», das heisst in die (damalige) Europäische Gemeinschaft überführt. Die übrigen Teile wurden in die sogenannte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen integriert; eine rein völkerrechtliche Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten. Die Schweiz ist seit 2008 (Bilaterale Verträge II) an den Schengen-Raum assoziiert.
Der Schengener Grenzkodex…
Die operativen Regeln des Schengen-Systems werden seit 2006 im Schengener Grenzkodex gebündelt, der erst im März 2016 neu gefasst wurde. Danach dürfen Binnengrenzen des Schengen-Raumes unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Die Aussengrenzen des Schengen-Raums dürfen hingegen nur über zugelassene Grenzübergangsstellen überschritten werden. An den Grenzübergangsstellen erfolgt eine Kontrolle der Einreisevoraussetzungen: bei EU-BürgerInnen eine Mindestkontrolle, bei Nicht-EU-BürgerInnen eine eingehende Kontrolle. Ausserhalb dieser Grenzübergangsstellen findet eine Grenzüberwachung statt.
… mit seinen Ausnahmebestimmungen
Art. 25 und 26 des Schengener Grenzkodex von 2016 erlauben im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen für bestimmte Zeit. Die Binnengrenze wird damit wie eine Aussengrenze behandelt (Art. 32). Grenzkontrollen dürfen für maximal sechs Monate, bei aussergewöhnlichen Umständen für maximal zwei Jahre wieder eingeführt werden. Für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ist ein spezielles Verfahren vorgesehen. Von diesen Ausnahmebestimmungen haben im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise Deutschland, Österreich, Ungarn, Slowenien, Schweden und Norwegen Gebrauch gemacht. Frankreich hat sich im Zusammenhang mit den Attentaten von Paris auf diese Ausnahmeregelung gestützt.
Bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat, die sofortiges Handeln erforderlich macht, kann sich dieser auf Art. 28 berufen. Der Artikel erlaubt es ihm, für einen Zeitraum von zehn Tagen (insgesamt aber maximal zwei Monaten) sofort wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen. Auf diesen Fall haben sich bislang nur Dänemark und Belgien berufen – letzteres im Zusammenhang mit der Räumung des Flüchtlingslagers in Calais.
Schliesslich erlaubt auch Art. 29 des Schengener Grenzkodex im Falle aussergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Dies für sechs Monate und höchstens dreimal um je weitere sechs Monate verlängerbar. Auf diese Ausnahme hat sich bisher kein Mitgliedstaat berufen.
Im März 2016 hat die EU Kommission einen «Fahrplan» vorgestellt, wonach das Schengen-System spätestens im Dezember 2016 wieder vollständig funktionieren und das «Flickwerk nationaler Entscheidungen» ein Ende haben soll. Ob dies möglich ist, bleibt abzuwarten…
Sarah Progin-Theuerkauf
Projektleiterin, nccr – on the move, Universität Freiburg