Einführung zur Blogserie « Gender matters! (Nicht-)Zugehörigkeit in der Schweizer Migrationsgesellschaft »
Inwiefern prägt Geschlecht unsere Vorstellungen von „den Schweizer*innen“ und „den Anderen*“ in der Politik, in Gesetzen und im Alltag? Unsere Blogreihe zeigt auf, wie Grenzziehungsprozesse zwischen Staatsbürger*innen und den „Anderen*“ vergeschlechtlicht werden und zu Ausschluss führen können. Gender als analytische Kategorie erlaubt es, solche liberalen und rechtsstaatlichen Werten zuwiderlaufende Ungleichheitsstrukturen und Ausschlussprozesse besser zu verstehen und zu bekämpfen.
Historische Analysen zeigen, dass Vorstellungen von den „Anderen“ vergeschlechtlicht sind und das viel mit dem „Eigenen“ zu tun hat. Beispielsweise prägen tief in der Schweiz verankerte klassisch-konservative Geschlechterrollen die nationale Einwanderungspolitik – etwa wenn Migrantinnen kein vom Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten. In Einbürgerungskommissionen werden Entscheidungen unter anderem auf der Basis normativer Vorstellungen davon, wie sich ein schweizerischer Mann oder eine schweizerische Frau zu verhalten habe, getroffen. Nachkommen von Migrant*innen, die formell die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzen, wird über spezifische vergeschlechtlichte Differenzkonstruktionen eine volle Mitgliedschaft in der Schweizerischen Gesellschaft verweigert und pauschal „Geschlechterungleichheit“ zugeschrieben.
Diese Beispiele verdeutlichen den gemeinsamen Bogen, den die drei Beiträge der Blogserie schlagen: Alle verweisen sie auf die zentrale Rolle der Kategorie Geschlecht als Kriterium von Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft. Uns interessiert, warum Geschlecht so zentral ist, welche anderen Kategorien (Nicht-)Zugehörigkeit erzeugen und was „Politiken der Zugehörigkeit“ sind.
Geschlecht als analytische Kategorie macht Ein- und Ausschlussprozesse sichtbar
(Nicht-)Zugehörigkeit wird immer über verschiedene Kategorien gleichzeitig hergestellt. Geschlecht nimmt hierbei eine zentrale Stellung ein. Wir verstehen Geschlecht weder als eine biologische Konstante noch als eine stabile Identität, sondern vielmehr als eine analytische Kategorie. Dies ermöglicht zu verstehen, wie geschlechtliche Differenz – meist in einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit – in sozialen Praktiken, Interaktionen, Arbeitsmärkten, Netzwerken, Repräsentationen und unter bestimmten Dominanzkonstellationen konstruiert, aktiv (re)produziert und transformiert wird. Dabei werden spezifische Verhaltenserwartungen an Frauen und Männer formuliert, sei es in staatlichen Institutionen, durch Zuschreibungen in der Arbeitswelt oder auch im Alltag. Eine Analyse mittels der Kategorie Geschlecht erlaubt es uns, solche Ein- und Ausschlussprozesse sichtbar und damit der Analyse (und Politik) zugänglich zu machen.
Um einige Beispiele zu nennen: Carolin Fischer zeigt in ihrem Beitrag, wie Geschlecht in der Einwanderungspolitik historisch auf unterschiedliche Arten und mit verschiedenen Bedeutungen mobilisiert wurde, um Grenzlinien zwischen „uns“ und den „Anderen“ zu ziehen. In den letzten Jahren werden Geschlechterbeziehungen vermehrt ethnisiert und kulturalisiert. Geschlechterungleichheit wird spezifischen Gruppen zugeschrieben. Migrantinnen spezifischer Gruppen werden infolgedessen pauschalisierend als rückschrittlich dargestellt, die systematische Benachteiligung von Frauen in der Schweiz jedoch nicht thematisiert. Geschlecht prägt aber auch spezifische Vorstellungen von „Suissitude“ und wer als Staatsbürger*in dazu gehören darf, wie Anne Kristol in ihrem Post erörtert. Joanna Menets Beitrag schliesslich verweist darauf, wie Nachkommen von Migrant*innen auf der Basis von Geschlecht und anderen Differenzkategorien die volle Zugehörigkeit zur Schweizer „Gemeinschaft“ verwehrt wird.
Geschlecht ist aber nicht die einzige Kategorie, anhand derer Zugehörigkeit und Ausschluss hergestellt werden. Soziale Klasse und Ethnizität, bzw. „Race“ sind weitere zentrale Differenzmerkmale, die häufig mit Geschlecht zusammenwirken. Carolin Fischer erörtert in ihrem Beitrag, wie in der Zulassungs- und Integrationspolitik Geschlecht immer wieder mit sozialer Klasse und Ethnizität verschränkt wurde. Joanna Menet beschreibt in ihrem Post, wie Nachkommen von Migrant*innen mit Alltagsrassismus als Resultat von intersektionellen Zuschreibungen bspw. über Islam und Geschlecht konfrontiert sind.
Vergeschlechtlichte Zugehörigkeitspolitiken und die Rolle von Nationalstaaten
Die Beiträge zeigen anhand verschiedener Facetten, wie Zugehörigkeit und Ausschluss hergestellt werden. Allgemein sind Migrationspolitik und Staatsbürgerschaft fundamental für das, was Nira Yuval Davis (2006: 198) „Politics of Belonging“ oder Zugehörigkeitspolitik, nennt. Sie versteht darunter bestimmte politische Projekte, die Zugehörigkeit auf spezifische Art für gewisse kollektive Gruppen konstruieren. Nationalstaaten sind diesbezüglich die wohl wichtigsten Akteure: Die nationalstaatliche Logik unterscheidet zwischen Bürger*innen und „Ausländer*innen“, zwischen Dazugehörigen und Nicht-Dazugehörigen, zwischen Eigenem und Fremdem, lässt diese konsequenzreichen Grenzziehungen als „natürlich“ erscheinen und erzeugt dadurch Zugehörigkeit und Ausschluss. Nationalstaatlich definierte Migrations-, Integrations- oder Einbürgerungspolitiken zielen allesamt darauf ab, Differenzen aufrechtzuerhalten und zu (re)produzieren und sind deshalb klassische Formen von Zugehörigkeitspolitiken.
Es sind denn auch diese Grenzlinien zwischen „uns“, der „Schweizerischen Gemeinschaft“, und den „Anderen“ und die damit einhergehende Vergeschlechtlichung, die in den einzelnen Beiträgen im Zentrum stehen. Sie zeigen, wie Geschlecht mobilisiert wird, um die eigenen, nationalen Reihen zu schliessen. So wird oft argumentiert, dass die „Anderen“ durch Geschlechterungleichheit geprägt seien, während Geschlechtergleichheit quasi zum „Schweizerisch sein“ gehöre – obschon Statistiken und empirische Erkenntnisse eine andere Sprache sprechen. Vergeschlechtlichung zeigt sich auch in den öffentlichkeitswirksamen Repräsentationen des männlichen Migranten als Täter, als Kriminellen, als Frauenunterdrücker – und im Pendant dazu, im Bild der weiblichen, verschleierten Muslimin, die durchgehend als zu „rettendes“ Opfer dargestellt wird – wie Joanna Menet etwa in ihrem Blog beschreibt. Ein anderes Beispiel für solche vergeschlechtlichte Zugehörigkeitspolitiken sind Einbürgerungsverfahren. Obschon de iure seit 1992 Geschlechtergleichheit im Bürgerrechtsgesetz verankert ist, wirken de facto patrilineare Vorstellungen weiter, wie Anne Kristol aufzeigt.
Gender ist also eine hochwirksame Kategorie was Zugehörigkeitspolitiken in Migrationsgesellschaften und damit verbundene Grenzziehungen betrifft. Geschlecht als Analysekategorie erlaubt es, wichtige Ungleichheitsstrukturen und Ausschlussprozesse zu verstehen. Eine solche Perspektive ist zentral, wenn politische Strategien erarbeitet werden sollen, um solche vergeschlechtlichten Diskriminierungen zu bekämpfen.
Gute Lektüre – bonne lecture.
Janine Dahinden ist Professorin für Transnationale Studien am Laboratoire d’études des processus sociaux (MAPS) und Projektleiterin am nccr – on the move. Die in dieser Blogserie vorgestellten Resultate stammen aus dem von ihr geleiteten Projekt Gender as a Boundary Marker in Migration, Citizenship and Belonging.
Referenzen:
– Dahinden, Janine, Kerstin Duemmler and Joëlle Moret (2014). « Disentangling Religious, Ethnic and Gendered Contents in Boundary Work: How Young Adults Create the Figure of ‘The Oppressed Muslim Woman’. » Journal of Intercultural Studies 35(4): 329-348.
– Yuval-Davis, Nira (2006). « Belonging and the Politics of Belonging. » Patterns of Prejudice 40(3): 197-214.
– Lutz, Helma and Anna Amelina (2017). Gender, Migration, Transnationalisierung. Eine intersektionelle Einführung. Transkript.