Föderale Migrationspolitik: Eine (Zwischen-)Bilanz aus kantonaler Sicht
Migration ist eine der zentralsten Herausforderungen der heutigen Zeit – auch für die Politik in der Schweiz. Wissenschaftliche Forschung liefert eine wichtige Grundlage für die Reflexion politischer Strategien und des Handelns der Behörden. Auf der Basis der kürzlich veröffentlichten Studie diskutiert dieser Beitrag die migrationspolitischen Errungenschaften und aktuellen Herausforderung aus einer kantonalen Perspektive.
Die vom Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien durchgeführte Studie stellt den Schweizer Behörden insgesamt ein gutes Zeugnis für ihr migrationspolitisches Handeln aus. Sie zeigt aber auch auf, wo noch Verbesserungen möglich sind.
Diskriminierungsschutz: anspruchsvolle Umsetzung
Trotz der Aufnahme des Schutzes vor Diskriminierung als eigenständiger Förderbereich in die Kantonalen Integrationsprogramme (KIP), tun sich Behörden bei der Übersetzung in konkrete Massnahmen gemäss der Studie nach wie vor schwer. Die Autor*innen der Studie schlagen deshalb vor, den Diskriminierungsschutz noch stärker strukturell zu verankern und als transversale Aufgabe politischen Handelns zu verstehen. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass wir uns hier noch verbessern müssen und können. Denn Menschen, die Diskriminierung erfahren, können resignieren, aber sich auch radikalisieren. Beide Szenarien sind klar nicht zielführend.
Asyl: vielversprechende Neustrukturierung
Die jüngste Neustrukturierung des Asylwesens konnte in der Studie zwar nicht berücksichtigt werden. Sie ist jedoch ein grosser Schritt in die richtige Richtung, denn Bund und Kantone haben eng zusammengearbeitet und schweizweit praktikable Lösungen gefunden.
Während die EU um einen Verteilschlüssel im Umgang mit Fluchtmigration ringt, ist ein solcher in der Schweiz längst die Regel: Asylsuchende werden diskussionslos auf die Kantone verteilt. Die Kantone gestalten die Ausgestaltung der Unterbringung, Betreuung und Begleitung dieser Asylsuchenden unter Berücksichtigung der lokalen Begebenheiten unterschiedlich – ein sinnvoller Handlungsspielraum in unserem föderalen System. Weil Asylsuchende nicht frei in der Wahl ihres Wohnsitzes sind, sind jedoch gewisse Mindeststandards angezeigt. Handlungsbedarf besteht etwa im nach wie vor sehr unterschiedlichen kantonalen Umgang mit der besonders vulnerablen Gruppe der minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden.
Weiter weist die Studie auf widersprüchliche bundesrechtlichen Vorgaben bezüglich der vorläufig aufgenommenen Personen (VA) hin: Während die Kantone für VA und Flüchtlinge gleichermassen Integrationsmassnahmen vorzusehen haben, sind VA bei der Sozialhilfe schlechter gestellt als Flüchtlinge. Dies erschwert die Integration von VA – obwohl auch sie und ihre Kinder grossmehrheitlich in der Schweiz bleiben werden.
Aus integrationspolitischer Sicht ist diese Benachteiligung aufgrund des Aufenthaltsstatus nicht zielführend. In diesem Zusammenhang ist auf das Schulwesen zu verweisen, für das die Kantone zuständig sind. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektor*innen EDK hält fest, dass alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder in die öffentlichen Schulen zu integrieren sind. Eine solche Integrationspolitik, die sich nicht an aufenthaltsrechtlichen Kategorien orientiert, unterstützt die Vermeidung von Diskriminierung.
Zulassung: institutionelle Kooperation fördern
Bezüglich der ausländerrechtlichen Zulassung stellt die Studie den kantonalen Arbeitsmarkt- und Migrationsbehörden insgesamt ein gutes Zeugnis aus: Dass vermehrt die neu auch im Ausländer- und Integrationsgesetz verankerten Integrationskriterien in ausländerrechtlichen Entscheiden berücksichtigt werden, hat offenbar zu einer gewissen Systematisierung geführt. Gleichzeitig – und das ist ebenso wichtig – beurteilen die kantonalen Behörden nach wie vor unter Einbezug der individuellen Fallkonstellation jedes Gesuch einzeln. Diese systematische Berücksichtigung der Integration bei ausländerrechtlichen Einzelfall-Entscheiden ist anspruchsvoll und erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen. Deshalb ist eine verstärkte Zusammenarbeit der Arbeitsmarkt- und Migrationsbehörden mit den Integrationsfachstellen angezeigt.
Integration: systematische Förderung dank KIP
Mit den Kantonalen Integrationsprogrammen KIP haben Bund und Kantone 2014 eine systematische Integrationsförderung eingeführt. Die 2018 verabschiedete Integrationsagenda bekräftigt den eingeschlagenen Weg. Allerdings bestehen zwei grosse Herausforderungen:
Zum einen darf die Schweiz unter den Ausländer*innen integrationspolitisch keine « Zweiklassengesellschaft » schaffen. In der jüngsten Zeit stand der Asylbereich im Fokus – gleichzeitig haben aber auch viele Personen aus dem EU-/EFTA-Raum oder aus Drittstaaten genau die gleichen Integrationsbedürfnisse wie Geflüchtete. Hier erwarten die Kantone vom Bund, dass er ebenso bereit ist, sie zu unterstützen und in die Integration auch dieser Menschen zu investieren.
Anderseits ist wenn immer möglich der so genannte Regelstrukturansatz zu verfolgen. Dies bedeutet, nicht zu stark auf «Sondersettings» für Zugewanderte zu setzen, sondern Fragen der Integration und des sozialen Ausgleichs vermehrt als Gesellschaftspolitik zu verstehen.
Einbürgerung: kohärentere Verwaltungspraxis angezeigt
Gemäss der Studie sind die kantonalen Praxen in keinem anderen Bereich so unterschiedlich. Deshalb ist es richtig, dass das 2018 in Kraft getretene Bürgerrechtsgesetz neu gewisse Minimalanforderungen setzt, die zu einer kohärenteren Verwaltungspraxis führen dürften. Allerdings führen die bundesrechtlichen Bestimmungen teilweise zu einem restriktiveren Zugang zum Bürgerrecht.
Von den 8,6 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, sind inzwischen rund 25 Prozent Staatsangehörige anderer Staaten. Mehr als die Hälfte von ihnen wurden in der Schweiz geboren oder haben hier für mehr als zehn Jahre gelebt. Als direkte Demokratie muss die Schweiz alles daransetzen, dass sich diese Menschen mit unserem Land und unseren Institutionen verbunden fühlen, indem sie nicht nur am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, sondern auch am politischen Leben aktiv teilnehmen. Nur so kann die Schweiz ihrer republikanischen Tradition treu bleiben und ihr politisches System für die Gesamtheit der Bevölkerung einen einigermassen repräsentativen Charakter bewahren.
Fazit: Pragmatismus statt Symbolpolitik
Migration ist ein hoch emotionales Thema. Wie die Migration ist auch das Unbehagen gegenüber Fremden eine menschliche Konstante. Gleichzeitig ist Migration konstitutiv für die Schweiz. Niemand war schon immer da! Zudem sollte uns die historische Erfahrung etwas selbstsicherer machen. Die Schweiz hat es immer verstanden, mit den Herausforderungen der Migration produktiv umzugehen und gesellschaftlich und wirtschaftlich davon zu profitieren.
Allerdings ist gerade in der Migrationspolitik die Versuchung allseits gross, Symbolpolitik zu betreiben. Doch das bringt uns nicht weiter. Wir sollten uns stattdessen an den Fakten orientieren und pragmatische Lösungen suchen. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass etwas Ruhe in die Migrationspolitik einkehrt, damit die Kantone und Gemeinden für einmal an der Qualität der Umsetzung arbeiten können und nicht immer wieder neue gesetzliche Vorgaben erfüllen müssen, die unverhältnismässig viele personelle und finanzielle Ressourcen binden.
Thomas Minger ist stellvertretender Generalsekretär und Leiter Bereich Innenpolitik der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK).
Dieser Beitrag basiert auf einer Sprechnotiz von Thomas Minger für die Veranstaltung «Föderale Migrationspolitik im Wandel» vom 15. Oktober 2019 und wurde vom Autor und vom nccr – on the move (Aldina Camenisch) für die Veröffentlichung überarbeitet.
Referenz:
– Probst, Johanna, Gianni D’Amato, Samantha Dunning, Denise Efionayi-Mäder, Joëlle Fehlmann, Andreas Perret, Didier Ruedin und Irina Sille (2019). Kantonale Spielräume im Wandel: Migrationspolitik in der Schweiz. Neuchâtel: Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien.