Schengen-Dublin als öffentliches Gut eines integrierten Europas

17.05.2019 , in ((Politique, Schengen/Dublin)) , ((Pas de commentaires))
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Die Schweiz partizipiert am europäischen Integrationsprozess, wenn auch nicht als Mitglied der Europäischen Union. Dies schafft funktionale Integrationszwänge, wie die Schengen/Dublin-Assoziierung verdeutlicht. Ein gemeinsamer Binnenmarkt und die Reisefreiheit in Europa sind öffentliche Güter, deren Herstellung und Aufrechterhaltung gemeinsame politische Regeln verlangen. Die Nicht-Übernahme der EU-Waffenrichtlinie durch die Schweiz wäre versuchtes Trittbrettfahren.

Das tragende Element des europäischen Integrationsprozesses ist der gemeinsame Binnenmarkt, in dem Kapital, Güter, Dienstleistungen und Menschen frei zirkulieren können. Dieses offene Europa dient dazu, die Freiheiten und der Wohlstand seiner Bürger*innen zu erweitern. Die Schweiz ist auch als Nicht-Mitglied der EU Teil dieses Integrationsprozesses und gar eine der grössten Gewinnerinnen des europäischen Binnenmarktes. Gleichzeitig erzeugen die Marktöffnung und der Wegfall der Grenzkontrollen funktionale Zwänge, welche nach weitergehender politischer Steuerung verlangen. Die Politikwissenschaft spricht von sogenannten Spill-over-Effekten, bei denen die Integration in einem Politikbereich zu verstärktem Integrationsdruck in anderen Politikbereichen führt. So hat die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes zu verstärktem Kooperationsbedarf in Fragen der inneren Sicherheit und der Asylpolitik geführt. Der Wegfall von Kontrollen an den Binnengrenzen erfordert kompensatorische Massnahmen, welche die Integrität des Binnenmarktes wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung garantieren.

Diese Kooperation wird in erster Linie durch die Schengen- als auch die Dublin-Vereinbarung sichergestellt. Schengen regelt die gemeinsamen Aussengrenzen und die Kooperation in Sicherheitsfragen, nachdem die Kontrollen an den Binnengrenzen weggefallen sind. Dublin regelt die Zuständigkeit für Asylverfahren, nachdem der Wegfall der Binnengrenzen die gemeinsame Festlegung dieser Zuständigkeiten unerlässlich gemacht hat. Die beiden Regelwerke sollen verhindern, dass der Wegfall der Binnengrenzen zu einem kollektiven Sicherheitsrisiko wird und dass nationale Asylpolitiken negative Auswirkungen für andere Staaten erzeugen.

Ein funktionierendes Dublin-System als öffentliches Gut

Der europäische Binnenmarkt und Schengen/Dublin sind Institutionen, welche den Mitgliedstaaten Kooperationsgewinne ermöglichen. In einem integrierten Europa garantieren Schengen und Dublin das öffentliche Gut eines offenen Europas. Von einem sicheren Europa und mehr Freiheit und Wohlstand durch Integration können alle beteiligten Staaten gleichzeitig profitieren, selbst wenn einzelne Staaten nur einen geringen Beitrag dazu leisten. Gerade deshalb sind öffentliche Güter typischerweise anfällig für Trittbrettfahrer: Die Verlockung ist gross, ein solches Gut zu nutzen, ohne einen Beitrag an dessen Erhaltung zu leisten.

Im Fall des Dublin-Systems wird dieses Problem besonders deutlich: Alle Mitgliedstaaten profitieren davon, dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren geregelt ist, um sogenannte “refugees in orbit” (Geflüchtete ohne eindeutigen rechtlichen Status) und das “asylum shopping” (Asylgesuche der gleichen Person in mehreren Staaten) zu verhindern. Die Staaten haben jedoch den Anreiz, ihren eigenen Beitrag (die Aufnahme von Geflüchteten) zu Lasten der anderen Staaten zu reduzieren. Durch dieses (versuchte) Trittbrettfahren wird die Herstellung des öffentlichen Gutes unterminiert. Deshalb können nur gemeinsame Regeln – wie Zuständigkeitsregeln für Asylgesuche – und die Kooperation aller Mitgliedstaaten dies verhindern und das öffentliche Gut sicherstellen.

Trittbrettfahren unterminiert das öffentliche Gut

Derselbe Integrationsdruck zeigt sich bei der Reisefreiheit in Europa: Um die Integrität des Schengenraumes sicherzustellen, haben die Staaten sich auf gemeinsame Regeln und Institutionen geeinigt. Die Schweiz hat sich durch die Schengen-Assoziierung diesem Regelwerk angeschlossen. In der Abstimmung über die Waffenrichtlinie entscheiden die Schweizer Stimmbürger*innen darüber, ob sie auch weiterhin den gemeinsamen Schengen-Regeln folgen möchten. Eine Nicht-Übernahme der Waffenrichtlinie bei gleichzeitigem Verbleib in Schengen/Dublin würde einem Trittbrettfahren gleichkommen. Dies indem man von den gemeinsamen Institutionen des offenen Europas profitieren möchte, selber aber von den gemeinsamen Regeln abweichen und so nicht zur notwendigen Integrität der Institutionen beizutragen bereit ist. Das Interesse der EU-Staaten an der Übernahme der Waffenrichtlinie durch die Schweiz liegt primär in der Sicherstellung des gemeinsamen öffentlichen Gutes. Das heisst im vorliegenden Fall, zu vermeiden, dass ein Staat innerhalb des Schengenraumes die gemeinsame Waffenrechtsregulierung unterläuft und dadurch potentiell negative Externalitäten für die anderen Mitgliedstaaten erzeugt. Was für die Schweiz innenpolitische Anpassungskosten sind, bedeutet für die EU der Erhalt der Integrität des Schengenraumes. Der Kündigungs-Automatismus im Schengen-Assoziierungsabkommen mit der Schweiz für den Fall einer Nicht-Übernahme der gemeinsamen Regeln dient daher der Verhinderung eines solchen Trittbrettfahrens und sichert die Integrität des Systems.

Die Abstimmung vom 19. Mai zeigt, dass die Schweiz auch als Nicht-Mitglied der EU den funktionalen Integrationszwängen unterworfen ist. Unabhängig davon, ob man nun ein strengeres Waffenrecht begrüsst oder nicht, kann sich die Schweiz der europäischen Integration mit gemeinsamen Regeln nicht entziehen. Sie riskiert bei einem solchen Versuch, die privilegierte Teilhabe an den öffentlichen Gütern der Bewegungsfreiheit und der kollektiven Sicherheit in Europa zu verlieren. Falls die Kosten des Trittbrettfahrens durch einen assoziierten Staat grösser sind als der Nutzen seiner Schengen-Assoziierung, dann haben die anderen Staaten ein Interesse daran, diesen Staat auszuschliessen. Die EU-Staaten haben ein Interesse, dass die Schweiz Teil des offenen Europas ist, weil sich dessen Wert mit steigender Anzahl Mitgliedstaaten erhöht. Sie müssen aber gleichzeitig auch dessen Integrität erhalten und sicherstellen, dass alle – und damit auch die Schweiz – ihren Teil dazu beitragen.

Philipp Lutz ist Politikwissenschaftler an der Universität Genf und Post-Doctoral Fellow im Projekt des nccr – on the move “Migration Governance through Trade Mobilities”.

Stefan Manser-Egli ist Doktorand am Maison d’analyse des processus sociaux (MAPS) der Universität Neuchâtel und assoziierter Forscher am nccr – on the move.

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