Zimmer mit Aussicht – oder einfach irgendein Zimmer

13.11.2019 , in ((Visible Minorities)) , ((Pas de commentaires))

In E.M. Forsters Roman steht das « Zimmer mit Aussicht » dafür, wie soziale Normen individuelle Freiheiten einschränken. Solche Normen basieren auf einem gemeinsamen Konsens. Diskriminierung verzerrt jedoch diesen (egalitären) Konsens und führt dazu, dass nicht allen die gleichen « Räume » zugänglich sind. Beispielsweise werden ethnische Minderheiten auf dem Schweizer Wohnungsmarkt systematisch benachteiligt – mit Folgen, die weit über das buchstäbliche Nichtvorhandensein eines « Zimmers mit Aussicht » hinausgehen.

Im Jahr 2018 führten Forschende des nccr – on the move ein sogenanntes Korrespondenzexperiment durch, bei dem fiktive Anfragen zur Besichtigung einer Wohnung an fast 6’000 Vermieter*innen in der gesamten Schweiz versendet wurden. Die Anfragen wurden mehr oder weniger freundlich formuliert und enthielten unterschiedliche Information über Alter und Beruf der Interessent*innen. Ausserdem wurde den fiktiven Bewerbungen ein zufälliger Name zugeteilt, der entweder häufig in der Schweiz oder einem Nachbarland vorkommt, oder aber auf eine Herkunft aus der Türkei oder dem Kosovo hinweist. Wie häufig die verschiedenen Bewerber*innen zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen wurden, liefert uns Hinweise darauf, ob und welche Gruppen von Vermieter*innen diskriminiert werden.

Der Name entscheidet

Der Wettbewerb um attraktiven Wohnraum im In- und Ausland ist in der Regel hart und Vermieter*innen können entsprechend wählerisch sein. Andererseits stellen Wohnungsbesichtigungen nur den ersten kleinen Schritt auf dem Weg zum Mietvertrag dar und Vermieter*innen laden oft grosszügig Interessent*innen dazu ein. Mehrere Dutzende bis Hunderte Personen an einem Besichtigungstermin sind keine Seltenheit, insbesondere in städtischen Gebieten. Diese Beobachtungen erwecken den Eindruck, dass praktisch jede interessierte Person die Möglichkeit erhält, die Wohnung zumindest zu besichtigen und dass die Auswahl der vielversprechendsten Kandidat*innen später erfolgt. Dieser Umstand wurde auch durch unser Experiment bestätigt: 75% aller Bewerber*innen erhielten eine Einladung. Aufgrund dessen würde man folglich auch keine allzu grossen Unterschiede in den Rückmelderaten zwischen den Gruppen erwarten.


Im Juni 2019 standen für eine Wohnung in Zürich mehr als 500 Leute Schlange. © Tagesanzeiger

Bei der Berücksichtigung der verschiedenen Merkmale, anhand derer sich die fiktiven Bewerbungen unterschieden, stiessen wir jedoch auf einige interessante Erkenntnisse: Wesentliche Informationen zur Person, wie etwa der Beruf oder der Familienstand, schienen keine grosse Rolle zu spielen. Was die Chancen auf eine Einladung verbesserte, waren eher « weiche » Aspekte, wie etwa ein freundlicher Schreibstil mit persönlicher Note, aber auch, ob die*der Antragsteller*in ein « Dr. » vor den Namen setzte und damit einen subtilen Hinweis auf ihre (ökonomische) Klassenzugehörigkeit lieferte. Das entscheidende Signal war jedoch der Name selbst. Zwar gab es keine Unterschiede in den Einladungsraten zwischen schweizerischen, deutschen, französischen oder italienischen Kandidat*innen, jedoch minderte ein kosovarischer und türkischer Name eindeutig die Chancen auf eine Einladung. Im Schnitt wurden Kosovar*innen und Türk*innen rund 10% weniger häufig eingeladen, als Schweizer*innen mit einem ansonsten gleichen Profil. Das klingt zwar nicht nach viel, bedenkt man aber, dass Vermieter*innen ohne zu zögern 8 von 10 Bewerber*innen einladen, dann sollte diese Zahl Anlass zur Sorge geben.

Benachteiligung am Wohnungsmarkt ist nur der Anfang

Denn die Auswirkungen dieser systematischen Benachteiligung sind weitreichend. Abgesehen davon, dass sich Menschen, die einen türkisch oder kosovo-albanisch klingenden Namen tragen oder einer anderen stigmatisierten Minderheit angehören, tendenziell häufiger mit « einem Zimmer ohne Aussicht » zufriedengeben müssen, drängt Diskriminierung die Betroffenen in schlechtere (weniger gefragte) und damit in sozial sowie wirtschaftlich weniger wohlhabende Quartiere.


Die Telli-Siedlung in Aarau, im Ranking die «hässlichsten Überbauungen der Schweiz», 2018 © 20minuten

Insofern hat die Benachteiligung auf dem Wohnungsmarkt mannigfaltige Auswirkungen. Ethnisch segregierte Stadtteile sind zumeist wirtschaftlich benachteiligt und weisen häufig eine höhere Kriminalitätsrate auf. Besonders hart sind die Folgen für Kinder in ärmeren Stadteilen. Es wurde u.a. von Shaw (2004) aufgezeigt, dass das Aufwachsen in einer benachteiligten Gemeinschaft mit schlechterer Gesundheit einhergeht. Die Bildungsqualität, auch in öffentlichen Schulen in solchen Stadtteilen ist ausserdem geringer (Taeuber 1979). Dies beeinträchtigt die schulischen Leistungen der Kinder (Gingrich and Ansell 2014), was wiederum deren künftiges Einkommen mindert. So schreibt auch die NZZ zur Telli-Siedlung, dass „aus keinem anderen Aarauer Schulhaus weniger Kinder den Sprung in die Bezirksschule oder das Gymnasium schaffen“ (Daum 2010). Gemäss einer US-amerikanischen Studie (Chetty et al. 2015) verdienen Kinder von Familien, die nach dem Zufallsprinzip die Möglichkeit erhielten, von einem Quartier mit hoher Armut in einen wohlhabenderen Stadtteil zu wechseln, später 31% mehr als ihre im Quartier verbliebenen Altersgenoss*innen.

Soziale Wohnungspolitik und Anti-Diskriminierungsgesetze sind notwendig

Man könnte argumentieren, dass sozialräumliche Segregation in der Schweiz weniger ausgeprägt ist als in den Vereinigten Staaten. Allerdings zeigen sich die im US-Kontext beschriebenen massiven Ungleichheiten auch in europäischen Ländern, deren Sozialsysteme mit demjenigen der Schweiz vergleichbar sind. Ausserdem; dass die Unterschiede zwischen den Quartieren in der Schweiz weniger extrem sein dürften, bedeutet nicht, dass dieselben Mechanismen hier keine Rolle spielen. Wer würde behaupten, dass es keine Unterschiede in der Wohnqualität, der Kriminalitätsrate, den Schulen oder Krankenhäusern zwischen einem schicken Quartier am See und einem sogenannten « Problem-Viertel » irgendwo zwischen Flughafen und Bahngleisen gibt?

Für eine Schweizer Gesellschaft, die Chancengleichheit für alle ihre Mitglieder

sicherstellen will, ergeben sich zwei logische Handlungsanweisungen aus unserer Studie:

Erstens muss die Schweiz Diskriminierung ernst nehmen. Die Ergebnisse dieses Experiments sind nur die Spitze des Eisbergs und ein Hinweis darauf, dass die systematische Diskriminierung verschiedener sichtbarer Minderheiten tief in unserem Alltag verwurzelt ist. Diese Benachteiligung sollte ebenso systematisch bekämpft werden, nicht zuletzt mit einer griffigen Anti-Diskriminierungsgesetzgebung.

Zweitens ist es an der Zeit für eine soziale Wohnungspolitik, die diesen Namen verdient. Proaktive Eingriffe in den Markt mittels kommunalen Wohnungsbaus können Segregationen jeglicher Art eindämmen. Ein Vorbild in dieser Hinsicht ist Österreichs Hauptstadt Wien, in der fast 30% der Bevölkerung in geförderten Wohnungen leben, während es in Zürich 5% und in der Gesamtschweiz 4% sind (Gamperl 2015; Forster 2018). Dank des weltweit größten Angebots an sozialen Wohnungen – strategisch verteilt auf die gesamt Stadtfläche – sind segregierte Stadtviertel in Wien nahezu unbekannt (Forrest 2019). Wenn Manager*innen und Sozialhilfeempfänger*innen in derselben Nachbarschaft leben, entsteht ein allgemeines Interesse (anstatt eines selektiven) an guten Schulen, kinderfreundlichen Parks und gut ausgestatteten Krankenhäusern. Dies kommt nicht nur den ökonomisch Benachteiligten zugute. Erfolgreiche Anti-Segregationsmassnahmen fördern auch die Interaktion zwischen Gruppen mit unterschiedlichem kulturellen, ethnischen oder sozioökonomischen Hintergrund und verhindern so alle Arten von Diskriminierung. Leider führt soziale Wohnungspolitik in der Schweiz nach wie vor ein Schattendasein.

Daniel Auer ist Postdoc am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Davor war er Doktorand im Projekt « Integration through active Labor Market Policies » des nccr – on the move.

Dieser Beitrag basiert auf einer Forschung, die vom Autor, Julie Lacroix (Universität Genf), Didier Ruedin (Universitäten Neuchâtel & Witwatersrand), Eva Zschirnt (European University Institute), Claire El Attar, Olivia Gasser, Julie Mancini und Maud Rouvinez (Universität Neuchâtel) durchgeführt wurde.

Referenzen:

– Auer, Daniel; Lacroix, Julie; Ruedin, Didier; Zschirnt, Eva (2019). Ethnische Diskriminierung auf dem Schweizer Wohnungsmarkt. Grenchen: Bundesamt für Wohnungswesen BWO.
Chetty, Raj; Hendren, Nathaniel; Katz, Lawrence (2015). The Effects of Exposure to Better Neighborhoods on Children: New Evidence from the Moving to Opportunity Experiment. NBER Working Paper No. 21156.
– Daum, Matthias (2010). Behaglichkeit in der Betonwand. NZZ.
– Forrest, Adam (2019). Vienna’s Affordable Housing Paradise. Huffington Post.
– Forster, Christof (2018). Der Bundesrate spricht sich gegen eine Quote für sozialen Wohnungsbau aus. NZZ.
– Gamperl, Elisabeth (2015). Kommunaler Wohnbau im internationalen Vergleich.
– Gingrich, Jane; Ansell, Ben (2014) Sorting for schools: housing, education and inequality. Socio-Economic Review 12(2): 329-351.
– Shaw, Mary (2004). Housing and Public Health. Annual Review of Public Health 25: 397-418.
– Taeuber, Karl (1979). Housing, Schools, and Incremental Segregative Effects. The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 441(1), 157–167.

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