highlights #2.1 DE

Editorial
Unterstützung von Flüchtlingen in der Schweiz – nach der Notlage die Integration?

Gianni D’Amato
Direktor des the nccr – on the move, Universität Neuchatel

Sommer 2015: Die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika in Europa wurde in abwegiger Weise als «Flüchtlingskrise» betitelt. Im Zuge des neu aufkeimenden Nationalismus und erstarkender radikaler rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa wurde die Fähigkeit unserer Gesellschaften, mit dieser und anderen Krisensituationen umzugehen, in weiten Kreisen der Öffentlichkeit infrage gestellt. Ganz zu Unrecht. Viele Flüchtlinge trafen nämlich auf freiwillige Helferinnen und Helfer und Organisationen und Regierungen, die trotz zeitweiliger Überforderung ihr Bestmögliches gaben.

Bis heute wurde Beeindruckendes geleistet. Die Hilfsbereitschaft kann auch als erfolgreiche Mikropolitik bezeichnet werden, als Politikgestaltung von unten. Doch abgesehen von all den Initiativen, um mit der unerwartet hohen Zahl an Neuankömmlingen fertig zu werden, lässt sich nicht leugnen, dass viele der in Europa angekommenen Menschen wohl bleiben werden. Somit rückte die Integrationsfrage  zunehmend in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte.

Diese Frage ist auch für die Schweiz von Bedeutung. Das Asylwesen wird derzeit restrukturiert, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Asylverfahren kürzer und effizienter zu gestalten. Gleichzeitig debattiert die Politik darüber, wie man die Lage der Menschen die auf längerer Sicht in der Schweiz bleiben werden, einschliesslich der vorläufig Aufgenommenen, verbessern könnte.

Um über die aktuellen und künftigen Herausforderungen zu diskutieren, organisierte der «nccr – on the move» im Dezember 2016 einen runden Tisch mit Praxisakteuren, Vertreterinnen und Vertreter der Behörde und NGOs. Daran wurden die neuesten Forschungsergebnisse des Nationalen Forschungsschwerpunkts präsentiert und besprochen. Basierend auf dieser Veranstaltung liefert die zweite Ausgabe von highlights, dem Online-Magazin des «nccr – on the move», interessante Beiträge zu den Debatten über die Integration im Asylwesen. Gestützt auf empirische Daten zeigen sämtliche Artikel auf überzeugende Weise, dass wir raschere Asylverfahren und eine Integrationspolitik benötigen, die zu einem frühen Zeitpunkt greift und auf die tatsächlichen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Menschen eingeht.

Die Beiträge

Integration ist ein klassisches transversales Thema, das sich nicht auf einzelne Politiken reduzieren lässt. Im politischen Diskurs wird sie unter dem Licht der Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, insbesondere in der Bildung, am Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und nicht zuletzt auch innerhalb des politischen Systems. Studien belegen, dass sich auch bestehende institutionelle Strukturen wie das Bildungswesen oder die Sozialgesetzgebung, die nicht spezifisch auf Migrantinnen und Migranten ausgerichtet sind, auf eine erfolgreiche Integration auswirken. Die Beiträge in dieser Ausgabe zeigen jedoch, dass die spezielle Situation von Menschen in einem Asylverfahren berücksichtigt werden muss.

Stefanie Kurt zeigt in ihrem Beitrag auf, dass integrationsfördernde Massnahmen im Rahmen der aktuellen Gesetzgebung eng mit einem sicheren rechtlichen Status verbunden sind. Nur Asylsuchende die den Flüchtlingsstatus erhalten haben oder vorläufig aufgenommen wurden haben Zugang zu Integrationsprogrammen – eine Tatsache, die die Autorin kritisiert. Sie stellt aber auch jüngere Projekte vor, die trotz allem auf eine stärkere Integration der Asylsuchenden in den Arbeitsmarkt abzielen. Sie betrachtet diese zwar als willkommene Initiativen, spricht sich aber dennoch für den Einbezug soziokultureller Aspekte, einschliesslich Sprachkurse und Staatskunde, aus. Ihre Argumente stellen auf verfügbare statistische Daten ab, die zeigen, dass zahlreichen Asylsuchenden ein gewisser Schutz gewährt werden dürfte und diese Menschen daher längerfristig in der Schweiz bleiben werden.

Aus einem ähnlichen Blickwinkel argumentieren Jens Hainmueller, Dominik Hangartner, Duncan Lawrence und Alexandra Dufresne ebenfalls für schnellere Asylverfahren. Anhand innovativer quantitativer Datenanalysen machen sie die positiven Auswirkungen von kürzeren Wartezeiten bis zum Asylentscheid auf die spätere Arbeitsmarktintegration von Menschen mit subsidiärem Schutzstatus sichtbar. Kürzere Asylverfahren können demnach zu einer höheren Beschäftigungsquote bei Flüchtlingen führen, was sich erheblich auf die Höhe der öffentlichen Ausgaben und Steuererträge auswirkt.

Philippe Wanner legt in seinem Artikel dar, dass die Partizipation am Arbeitsmarkt von Männern aus dem Asylbereich nicht nur im Vergleich mit der männlichen Bevölkerung insgesamt, sondern auch im Vergleich mit der ausländischen Wohnbevölkerung im Allgemeinen deutlich geringer ist. Seine interessanten Analysen von Längsschnittdaten des «nccr – on the move» verdeutlichen weiter, dass das Einkommen von Männer im Asylbereich im Durchschnitt tiefer als das von der übrigen ausländischen Bevölkerung liegt, auch wenn sich der Einkommensunterschied bei einigen bereits lange ansässigen Flüchtlingsgruppen verringert. Mit seinen Analysen hebt Philippe Wanner die vorliegenden deutlichen Unterschiede hervor, bezogen auf die Nationalität und andere Aspekte. Aufgrund seiner Erkenntnisse spricht er sich für eine flexible Arbeitsmarktintegrationspolitik aus, die der Diversität dieser Bevölkerungsgruppe Rechnung trägt.

In ihrem Beitrag konzentrieren sich Gail Womersley, Laure Kloetzer und Betty Goguikian Ratcliff auf die negativen Auswirkungen langer Asylverfahren auf die psychische Verfassung von Flüchtlingen. Anhand zweier Biografien veranschaulichen die Autorinnen, wie lange Wartezeiten und ungewisse Lebensperspektiven die Folgen früherer traumatischer Erlebnisse und Depressionen verstärken können. Wie die meisten anderen Autorinnen und Autoren  plädieren auch sie für raschere Asylentscheide und zeigen überdies auf, dass eine stärkere Integration in den Arbeitsmarkt und im gesellschaftlichen Leben nach der Gewährung des Flüchtlingsstatus eine wichtige Voraussetzung für eine Verbesserung des seelischen Wohlergehens ist.

Constantin Hruschka liefert in dieser Ausgabe von highlights den Gastbeitrag. Für ihn ist eine verzerrte öffentliche Wahrnehmung der Asylsuchenden charakteristisch für den politischen Diskurs und die Integrationspolitik der Schweiz. Politik und Praxis konzentrieren sich auf Kontrolle, Abschreckung und Sicherheit statt auf Integration. Eine gute Integrationspolitik sollte auf Mitwirkung basieren und sich ohne die heute vorherrschende paternalistische Haltung von Beginn an alle Menschen im Asylbereich richten. Um den Menschen eine Perspektive zu geben und unerwünschte Folgen zu vermeiden, sollte ein Dialog mit den Direktbetroffenen stattfinden.

Schlussfolgerung: Zurück zu den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates

Mit der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Flüchtlingen in Europa rückte das Thema gemeinsamer Werte noch stärker ins Zentrum als früher. Ich bin überzeugt, dass demokratische Werte und verfassungsmässige Grundsätze unbedingt gefördert werden müssen. Die Akzeptanz solcher Standards lässt sich allerdings nicht verordnen. Damit ein solcher Prozess funktionieren kann, braucht es ein Engagement von uns allen, wobei diese Werte tagtäglich erfahrbar sein müssen und nicht nur theoretisch vermittelt werden können.

Wie die frühere Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff einst meinte: «Statt kontrafaktische Homogenität zu postulieren oder naiv Konfliktpotenziale zu leugnen, sollten wir uns der Frage zuwenden, was innerhalb der politischen Einheiten, mit denen wir zu tun haben, die besten Voraussetzungen für friedliche Koexistenz und gedeihliche Kooperation bei gegebener Inhomogenität sind.»(1) Ihre Antwort darauf: moderne Verfassungen. Verfassungen sind das wichtigste Orientierungsmittel für demokratische Zivilgesellschaften. Sie sind die «Bibel der Bürgerinnen und Bürger»(2) und wurden nicht nur für Anwältinnen  und Anwälte verfasst. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viele Bürgerinnen und Bürger unser Grundgesetz nicht kennen. Natürlich dürfen wir die politische Kultur von Migrantinnen und Migranten nicht von oben herab betrachten und meinen, wir können ihnen Demokratie so einfach beibringen. «Shared Citizenship» muss von allen ausgeübt werden und benötigt echte Begegnungen, die nicht immer frei von Streit und Dissens sein werden.(3) Mit anderen Worten: Konflikte gehen über die Migrations- oder Flüchtlingsthematik hinaus und sind Teil des Integrationsprozesses jeder Gesellschaft. Sie sind ein existenzieller Bestandteil von Demokratien, da es in komplexen Gesellschaften keine Patentlösungen gibt. Und wenn langwierige Streitigkeiten einen positiven Ausgang nehmen, gehen Verfassung und Demokratie gestärkt aus ihnen hervor.

Die Intoleranz in unserer Gesellschaft wächst. Die jüngsten tragischen Terroranschläge sowie das Aufkommen radikaler populistischer Bewegungen, die alte Formen einer Politik der Ausgrenzung fördern, sind zwei Aspekte der heutigen Intoleranz. Sie bedrohen unsere Freiheit. Es ist zwar wichtig, jede Form von Radikalismus zu bekämpfen, doch wir müssen uns auch das vor Augen halten, was uns verbindet. Wir müssen gegen jede Form der Entsolidarisierung Widerstand leisten, denn Widerstand kann neue politische Möglichkeiten eröffnen und die notwendigen Voraussetzungen schaffen, um die Errungenschaften der demokratischen liberalen Rechtsstaaten mit ihren Menschenrechtssystemen zu verteidigen. Dann ist Integrationsförderung möglicherweise nur der erste Schritt auf der Suche nach überzeugenden Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. In diesem Sinne können uns die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer, die auf die «Flüchtlingskrise» einfach mit ihrem persönlichen Einsatz reagierten, den Weg weisen.

Gianni D’Amato

(1) Lübbe-Wolf 2007

(2) Paine 1987

(3) Kleger 2017

Literaturverzeichnis

Kleger, Heinz. Flüchtlingshilfe: Von der Notsituation zur Integration. Norderstedt, 2017.

Lübbe-Wolf, Gertrude. «Homogenes Volk – Über Homo-genitätspostulate und Integration.» Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 4 (2007): 121-127.

Paine, Thomas. The Thomas Paine Reader. New York and London: Penguin, 1987.