highlights #1.1 DE

Editorial
Die zwei Seiten des Erfolgs: die Schweiz und die Personenfreizügigkeit

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Gianni D’Amato
Direktor des nccr – on the move, Universität Neuchatel

Migration und Mobilität sind eng mit den Veränderungen in unserer Gesellschaft verknüpft: Migrationsbewegungen sind oftmals eine Reaktion auf technische, ökonomische, soziale und politische Umwälzungen. Gleichzeitig verändert die Migration die Zusammensetzung von Gesellschaften – sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmestaat. Aus diesem Grund ist Migration in den Industrienationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine hochpolitische Angelegenheit – sowohl in der Schweiz als auch in anderen Ländern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann innerhalb der Europäischen Gemeinschaften die Schaffung eines supranational regulierten europäischen Arbeitsmarktes. Mit der Gründung der Europäischen Union im Jahre 1992, zu der auch die Unionsbürgerschaft gehörte, nahm die politische Integration ihren Anfang. Die Schweiz ist mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) Teil dieses entnationalisierten politischen und wirtschaftlichen Raumes. Die dadurch ausgelöste Entwicklung führte bei der Steuerung von Migrationsströmen zu einem Paradigmenwechsel: Ursprünglich auf die Befriedigung der arbeitsmarktlichen Bedürfnisse der Nationalstaaten ausgerichtet, rückte vermehrt das Recht der Individuen und Wirtschaftsakteure auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und der assoziierten Partnerländer in den Fokus. In der Schweiz war man dieser epochalen Veränderung gegenüber zwiespältig eingestellt: Bei der letzten Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative von 2014 sprach sich eine knappe Mehrheit von 50,3 Prozent für die Wiedererlangung der Kontrolle über die Einwanderung aus – ein krasser Gegensatz zu den zahlreichen, seit dem Jahr 2000 durchgeführten, erfolgreichen Abstimmungen, welche die Migrationsbewegungen als Folge der bilateralen Abkommen mit der EU akzeptiert hatten.

Diese Erstausgabe von «Highlights», dem Online-Magazin des «nccr – on the move», leistet einen innovativen Beitrag zur Analyse der komplexen, oft ambivalenten Beziehung zwischen der Schweiz und der EU. In dieser Ausgabe wird hinterfragt, ob in Bezug auf die bilateralen Abkommen von einer Erfolgsgeschichte gesprochen werden kann. Basierend auf einigen im Rahmen des «nccr – on the move» erhobenen Daten werden ausgewählte Veränderungen in der Schweiz seit 2002 dokumentiert sowie die durch die bilateralen Verträge ausgelösten Dynamiken beleuchtet. Das so entstandene Bild ist weder schwarz noch weiss. Vielmehr stossen wir beim Versuch, die durch die Migration ausgelösten Veränderungen und die zukünftigen Herausforderungen zu erklären, auf zahlreiche Graustufen. Mit verschiedenen Beiträgen, die ökonomische, demografische, soziologische und rechtliche Erkenntnisse zusammenfassen, möchten wir die gesellschaftliche Relevanz unseres Nationalen Forschungsschwerpunktes aufzeigen: Das Augenmerk unserer Expertinnen und Experten richtet sich auf eine klare Fragestellung, die neue Antworten erfordert (und zuweilen tauchen dabei noch bessere Fragen auf). Dies ist ein Beispiel interdisziplinärer Zusammenarbeit in Höchstform!

Die Beiträge

Gastautor Thomas Straubhaar setzt sich in seinem Beitrag mit der selbstkritischen Frage auseinander, warum er sich 1999 irrte, als er mit seinem neoklassischen Ansatz nur geringe Migrationsströme von der EU in die Schweiz voraussagte, während diese sich in der Realität dann als deutlich grösser herausstellten. Im Beitrag geht er von der Annahme aus, dass beide Arbeitsmärkte in relativ homogene wirtschaftliche Gegebenheiten eingebettet waren, berücksichtigte dabei aber weder ökonomische Unterschiede der beiden Gebiete – besonders für die Zeit nach der Wirtschaftskrise von 2008 – noch kulturelle Gemeinsamkeiten der Schweiz mit ihren Nachbarstaaten, was zu einer zunehmenden wirtschaftlichen Integration führte und die Mobilität ankurbelte.

Elena Vidal-Coso und Enrique Ortega-Rivera bedienen sich der Theorie segmentierter Arbeitsmärkte und vergleichen die neue italienische und spanische Einwanderung mit derjenigen der 1970er-Jahre. Die Überrepräsentation italienischer und spanischer Einwanderinnen und Einwandern in den unteren Schichten der beruflichen Hierarchie am Ende der Gastarbeiter-Ära lässt sich mit der negativen Selektion aufgrund ihrer Ausbildung und fehlender Beherrschung der am Arbeitsort gesprochenen Landessprache erklären. Doch die Ergebnisse belegen auch nach Kontrolle vom schwachen Bildungskapital das Fortbestehen ihrer beruflichen Benachteiligung. Im Gegensatz dazu – und die Reaktion der Medien auf diese Ergebnisse war beeindruckend – gehören neuere Einwandererkohorten aus Italien und Spanien aufgrund ihrer positiven Skill-Selektivität mittlerweile zu den hochqualifizierten ausländischen Arbeitskräften und sind Teil des nachfrageabhängigen Dreh- und Angelpunkts des Schweizer Arbeitsmarktes. Trotzdem werden wir gespannt mitverfolgen, ob bei diesen beiden unterschiedlichen Einwanderungswellen aus dem Süden Gemeinsamkeiten oder Unterschiede überwiegen werden.

Ein wichtiger Grund für die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative war die generelle Befürchtung, Einwanderinnen und Einwanderer könnten die einheimische Bevölkerung von den Arbeitsplätzen verdrängen. Ensar Can analysiert die vorhandenen Daten und kommt zum Schluss, dass – obwohl die Nettomigration konstant bis auf 40’000 Personen jährlich zugenommen hat – es die hochqualifizierten Schweizer Arbeitskräfte sind, die am meisten vom FZA profitieren, während manchen schlecht qualifizierten Arbeitskräften die Gefahr droht, vom Arbeitsmarkt verdrängt zu werden. Da schlecht qualifizierte Arbeitskräfte nur einen geringen Anteil der Gesamteinwanderung ausmachen, halten sich die negativen Auswirkungen auf die inländischen Arbeitskräfte insgesamt aber in Grenzen. Die Grundaussage lautet, dass die starke Einwanderung der letzten Jahre durch die Umstrukturierung des schweizerischen Arbeitsmarktes bedingt ist und dass wir deren Auswirkungen auch in Zukunft spüren werden. Doch wie soll diese Nachfrage künftig befriedigt werden?

Die jüngste Debatte zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative von 2014 konzentrierte sich auf die Einführung eines Quotensystems, ähnlich wie es vor Inkrafttreten der bilateralen Abkommen im Jahr 2002 praktiziert wurde. Laure Sandoz analysiert das gegenwärtige Quotensystem, mit welchem die Zulassung von Drittstaatenangehörigen geregelt wird. Trotz tiefer Zahlen orientiert sich das Quotensystem an zwei verschiedenen Ansätzen. Es regelt einerseits die Verteilung von Einwanderinnen und Einwanderern. Andererseits stellt es ein wichtiges Instrument zur politischen Kommunikation dar, welches der Bevölkerung signalisiert, dass die Behörden die Migrationsbewegungen unter Kontrolle haben. Dennoch besteht, wie in der Vergangenheit, die Gefahr, dass neokorporative Strukturen geschaffen werden, welche den Wettbewerb zwischen den Regionen und Branchen angesichts der hochbleibenden Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften verstärken. Wie die Geschichte uns lehrt, können politische Signale dieser Art nach hinten losgehen, wenn die Allgemeinheit sie für die Erreichung der versprochenen Ziele als unwirksam erachtet. Die fremdenfeindlichen Abstimmungen in den 1970er-Jahren haben dies eindrücklich belegt.

Doch würden sich Quoten für EU-Bürgerinnen und -Bürger mit dem FZA vereinbaren lassen? In ihrer Studie zur EU-Gesetzgebung kommt Sarah Progin-Theuerkauf zum Schluss, dass die Einführung von Quoten für EU-Bürgerinnen und -Bürger das Abkommen verletzen würde. In jedem Falle müssten die EU und ihre Mitgliedstaaten allen von der Schweiz eingeführten Massnahmen zustimmen, damit sie im Gemischten Ausschuss einstimmig angenommen würden. Die Billigung eines Quoten-Systems durch den Gemischten Ausschuss ist unwahrscheinlich angesichts der Auflagen des gegenwärtigen Abkommens, denn Art. 13 FZA untersagt den Vertragsparteien ausdrücklich, die Verabschiedung neuer restriktive Massnahmen in Bezug auf Staatsangehörige aus den betreffenden Partnerstaaten.

Schlussfolgerung

Obwohl die Beziehung der Schweiz zur EU komplex, zwiespältig und oftmals auch im Land selbst umstritten ist, war das FZA wirtschaftlich ein Erfolg. Dadurch konnte die Schweiz jene hochqualifizierten Arbeitskräfte ins Land holen, die aufgrund des Schweizer Bildungssystems im Inland Mangelware sind. Doch jede ökonomische Legitimierung bedarf der politischen Unterstützung. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hat gezeigt, dass diese Unterstützung von kurzer Dauer sein kann. Obschon es neuer Lösungen bedarf, scheint es offensichtlich, dass die Wiedereinführung eines Quotensystems den neokorporativen Wettbewerb erneut zum Leben erwecken wird. Dieser muss mit aufwendigen bürokratischen Verfahren zur Ausgleichung der unterschiedlichen Interessen der Regionen und Branchen in die Schranken verwiesen werden – ein Spannungsfeld, das seit den bilateralen Abkommen der Vergangenheit angehörte. Ausserdem wurden Verhandlungen mit der EU und den Mitgliedstaaten aufgenommen, deren Resultate nur schwer abzuschätzen sind. Die Notwendigkeit, die Masseneinwanderungsinitiative unter Berücksichtigung des geltenden gesetzlichen Rahmens umzusetzen, wird in den kommenden Monaten den Anstoss für eine intensive Debatte geben, welche die Grundpfeiler der politischen Kultur der Schweiz zum Wanken bringen könnte.

Gianni D’Amato