Zur Rechtmässigkeit von Abweisungen von Migrant*innen an Schengen-Binnengrenzen

20.06.2018 , in ((«Good Practices»)) , ((Keine Kommentare))

In der letzten Zeit gab es in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vor allem in Deutschland, Vorschläge, Migrant*innen an der Grenze abzuweisen. Auch in der Schweiz wird dies gelegentlich vorgetragen. Nach einer Lektüre des nationalen Rechts erscheint es tatsächlich möglich, Migrant*innen an der Grenze abzuweisen. So erlaubt z.B. Art. 64c AuG «formlose Wegweisungen» an der Grenze. Aber ist dem wirklich so? Sind Abweisungen an der Grenze überhaupt mit Völker- und Europarecht vereinbar?

Europarechtlicher Rahmen

Zunächst einmal hat das Schengener Übereinkommen, umgesetzt durch das Schengener Durchführungsübereinkommen, systematische Personenkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen abgeschafft. Nach dem heute geltenden Schengener Grenzkodex sind Personenkontrollen nur möglich, um etwa Gefahren für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit abzuwenden. Die Kontrollen müssen aber der EU-Kommission notifiziert werden, unter Bezeichnung der entsprechenden Grenzabschnitte und der Dauer der Kontrollen.

Gesetzt den Fall, dass Kontrollen angekündigt wurden und rechtlich zulässig sind, wäre es aber aufgrund eines anderen Rechtsakts unzulässig, Personen an der Grenze abzuweisen: Nach der Dublin-Verordnung ist es nämlich jeder Person möglich, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Hat der Staat, in dem das Asylgesuch gestellt wurde, die Vermutung, dass ein anderer Staat zuständig sein könnte, so muss ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden, das die genaue Zuständigkeit bestimmt. Zu diesem Zwecke muss auch die Einreise in das Staatsgebiet gestattet werden, selbst wenn die betroffene Person keine Papiere und kein Visum besitzt (Schengener Grenzkodex). Stellt der die Zuständigkeit prüfende Staat fest, dass tatsächlich ein anderer Staat zuständig ist, muss er diesen um Aufnahme oder Wiederaufnahme des oder der Asylsuchenden ersuchen. Der ersuchte Staat muss innert einer festgelegten Frist antworten, sonst wird seine Zuständigkeit vermutet. Schafft es der die Zuständigkeit prüfende Staat dann nicht, den oder die Asylsuchenden innerhalb einer Frist von 6 Monaten in den zuständigen Staat zu überstellen, geht die Zuständigkeit auf diesen Staat über. Es ist also nicht von vorneherein klar, wo das materielle Asylverfahren durchzuführen ist. Dass man sich auf den Fristablauf berufen kann, hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen bestätigt.

Die Dublin-Verordnung will gerade das Phänomen der «refugees in orbit» verhindern, so dass ein negatives «Sich-für-unzuständig-Erklären» nicht zulässig ist. Ein Dublin-Staat muss daher immer ein Dublin-Verfahren durchführen, das auch Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht. Es lässt sich auch nicht etwa direkt an der Grenze erkennen, welcher Staat eigentlich für das Asylverfahren zuständig wäre. Es ist durchaus nicht so, dass Dublin-Binnenstaaten nie zuständig sein können. Dies festzustellen, erfordert meist weitere Abklärungen, wie die Frage des Alters des oder der Asylsuchenden und eventuell bestehende familiäre Bindungen. Allein an Eurodac-Treffern lässt sich nicht erkennen, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist.

Sofern ein*e Migrant*in an der Grenze kein Asylgesuch stellt, ist eine Abweisung auch nicht ohne weiteres möglich. Vielmehr greift dann die EU-Rückführungsrichtlinie, nach der eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und der Person eine Frist zur freiwilligen Ausreise zu gewähren ist. Erst wenn dieser nicht Folge geleistet wird, kann Zwang angewendet werden. Die Ausreisepflicht besteht dann wohlgemerkt in den Heimatstaat, nicht etwa in einen Transitstaat.

Innerhalb der EU hat das Europarecht Vorrang vor nationalem Recht. Die Schweiz ist durch ihre Assoziierungsabkommen an Schengen und Dublin gebunden.

Internationales Recht

Auch internationales Recht steht Abweisungen an der Grenze entgegen: Nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darf niemand in ein Land zurückgewiesen werden, in dem ihm oder ihr Folter oder unmenschliche Behandlung oder Bestrafung droht. Parallele Normen enthalten Art. 7 des Internationale Paktsüber bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) und Art. 3 der Anti-Folterkonvention der UNO. Ein Non-Refoulement-Gebot enthält auch Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Flüchtlingseigenschaft ist im Übrigen deklaratorischer Natur, so dass sich ein Staat stets vergewissern muss, wie die Rechtslage für die betroffene Person aussieht. Die Schweiz ist Vertragspartei dieser Internationalen Abkommen.

Nach Art. 4 des 4.Zusatzprotokolls zur EMRK sind schliesslich Kollektivausweisungen verboten. Dieses hat die Schweiz jedoch nicht unterzeichnet.

Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass Abweisungen von Asylsuchenden an Binnengrenzen innerhalb des Schengen- und Dublin-Raums nicht zulässig sind. Anderslautendes nationales Recht ist daher nicht mit Völker- und Europarecht vereinbar. Die hier vertretene Rechtsauffassung teilen übrigens auch viele Asylrechtsexpert*innen, vgl. hier, hier und hier. Es wird Zeit, dass sich die Staaten in Europa endlich auf eine gemeinsame, wirklich solidarische Lösung der «Migrationskrise» einigen, statt nationale Alleingänge zu Lasten ihrer Nachbarn und Partner durchzudrücken.

 

Sarah Progin-Theuerkauf
Projektleiterin, nccr – on the move, Universität Fribourg

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