Wer soll hier ausgetauscht werden?
Keine zehn Minuten bevor der Rechtsextremist Brenton Tarrant am frühen Nachmittag des 15. März 2019 Dutzende friedlich betende Muslim*innen im neuseeländischen Christchurch brutal ermordet, drückt er noch einmal rasch auf den Absende-Button seines Mailkontos. Was kurze Zeit später mehr als dreissig Empfänger*innen erreicht, darunter Premierministerin Jacinda Ardern, ist ein inzwischen berühmt gewordenes 74-Seiten-Pamphlet. Der markige Titel: The Great Replacement.
In dem aus einer Art Frage-und-Antwortspiel sowie verschiedenen lose zusammenhängenden Einlassungen bestehenden Text skizziert der Täter kurz seine Beweggründe, bevor er sich in einer kruden Mischung aus nationalistischen Reinheitsfantasien und überschäumender Migrationsparanoia ergeht: „This is ethnic replacement. This is cultural replacement. This is racial replacement“ schreibt er etwa in einer Passage, die er um einen Wikipedia-Link zu den unterschiedlichen Geburtenraten verschiedener Staaten herum aufbaut. „Expecting immigrants to assimilate to a dying, decadent culture is laughable“ heisst es an anderer Stelle. Und während er auf der einen Seite Diversität als Gegnerin des Gleichheitsgrundsatzes verfemt („Diversity is anathema to equality“), stellt er kurz darauf mahnend fest: „Your ancestors did not sweat, bleed and die in the name of an (…) egalitarian society“.
Aus wissenschaftlicher Perspektive staunt man nicht schlecht über die Ungelenkheit dieser rassistisch unterlegten Generalabrechnung mit der Weltlage. Tarrants Argumentation hat nur wenig von der einnehmenden Geschmeidigkeit anderer rechter Volksverführer und sein dünnes Schriftlein lässt sich auch kaum mit den 1500-Seiten-Phantasmagorien eines Fjotolf Hansen vergleichen. Viele seiner Ausführungen sind widersprüchlich, der Stil assoziativ und die Holzhammersemantik kaum geeignet, der versuchten Rationalisierung seiner Tat Vorschub zu leisten. Statt mit Hansen drängt sich vielmehr der Vergleich mit Dylann Roof auf, jenem weissen Suprematisten, der 2015 ein blutiges Massaker in einer vorwiegend von Afroamerikaner*innen besuchten Kirche in Charleston verübte. Denn wie der Südstaatler Roof, der in Tarrants Manifest wohlwollend erwähnt wird, in der irrwitzigen Annahme tötete, damit eine Art Rassenkrieg auszulösen, mordete der Australier Tarrant, um auf den titelgebenden Great Replacement (Grossen Austausch) aufmerksam zu machen.
Variationen einer Manie
Gemeint ist damit eines der derzeit populärsten Reizthemen im fremdenfeindlichen Politikspektrum, das auf die Idee einer kontinuierlichen Zurückdrängung des eigenen Bevölkerungsanteils abstellt. Der Begriff selbst wurde massgeblich vom Franzosen Renaud Camus geprägt, einem Säulenheiligen der rechtsextremen Identitären Bewegung, der dabei wiederum auf zahlreiche Vorarbeiten (etwa die Eurabia-Theorie der Britin Gisèle Littmann) zurückgreifen konnte. Die Austausch-These selbst ist für sich genommen so einfach wie unbedarft: Durch Zuwanderung und abnehmende Fertilität komme es angeblich zu einem allmählichen Verschwinden der ethnischen und kulturellen Substanz westlicher Gesellschaften; Deutsche würden somit nach und nach durch Türk*innen ersetzt, Norweger*innen durch Iraker*innen, Belgier*innen durch Kongoles*innen und Camus’ sterbendes Frankreich gar mit Heerscharen junger, vitaler und gebärfreudiger Maghrebiner*innen neu bevölkert.
Im Zeitalter der Globalisierung haben diese national angelegten Angstfantasien eine Verselbstständigung erfahren und sich in eine Art Formschablone für nativistisches und islamophobes Gedankengut weltweit verwandelt. Die Theorie vom Great Replacement steht dadurch immer mehr für ein ganzes Bündel an Weltdeutungen, die sich um einen festen konspirationistischen Kern (den beschrieben Austausch von uns mit denen) gruppieren und diesen verschiedentlich ausschmücken. So gilt das Ganze je nach Interpretation als natürliche Folge westlicher Dekadenz und politischer Ignoranz, als strategisches Machtmittel nationaler Regierungen (die Migrant*innen werden hier als besser kontrollierbar als die Mehrheitsbevölkerung dargestellt) oder als Plan einer gesichtslosen, globalen Elite zur endgültigen Vernichtung der europäisch-abendländischen Zivilisation und der weissen Rasse.
Die Sprache des Terrors
Brenton Tarrant hatte wohl einen eher globalen Blick auf das Weltgeschehen; zumindest schreibt er, dass für ihn vor allem die letzten französischen Präsidentschaftswahlen den Ausschlag zum Blutbad gegeben hatten. Der allzu deutliche Sieg von Emmanuel Macron über die Rechtspopulistin Marine Le Pen führte ihn wohl zu der Einsicht, dass es nun endgültig keine Hoffnung mehr auf eine „democratic solution“ (lies: rassistisch motivierte Kollektivvertreibungen) gebe – weder im alten Europa noch sonst irgendwo auf der Welt. Die einzige Alternative bestünde daher im Schaffen einer „atmosphere of fear and change in which drastic, powerful and revolutionary action can occur“. Was wie eine wahnwitzige Parodie auf dschihadistische Aufwiegelungsrhetorik klingt, zeigt in Wahrheit, wie tief sich die Idee eines weltpolitischen Kontinuums und eine dementsprechende Handlungslogik in die verschwörungstheoretische Selbstwahrnehmung des Rechtsextremismus gefressen hat: Ein durch Ereignisse in Frankreich und Schweden radikalisierter Australier richtet in der sympathischen Auswanderernation Neuseeland die wohl schlimmste Bluttat der Landesgeschichte an, nicht ohne zuvor zum Mord an der deutschen Bundeskanzlerin, dem türkischen Staatspräsidenten und den pakistanischstämmigen Bürgermeister Londons (die „high profile enemies“) aufzurufen. Einen perverseren Ausweis für die Globalisierung des Paranoiden hat man selten gesehen.
Sowohl die Wissenschaft als auch die Politik sind in dieser Situation umso mehr dazu angehalten, Form und Umstände dieser Geisteshaltung angemessen zu adressieren und auch zu analysieren. Dazu gehört insbesondere der Schritt, konspirationistische Metanarrative wie das vom Great Replacement nicht nur als exzentrische Fantastereien, sondern als wirkungsmächtige gegen- und subkulturelle Diskursstrukturen anzuerkennen, die immer mehr in den neurechten Mainstream ausgreifen. In der Schweiz hat die mit verschiedenen SVP-Politikern verbandelte Schweizerzeit den Begriff etwa recht unverblümt verwendet: «Der grosse Austausch ist Realität» titelte sie im Dezember 2017. Damit fasste sie zusammen, was zuvor in einer ganzen Reihe ähnlicher Artikel bereits recht deutlich angeklungen war: Dass es nämlich keine Frage mehr sei, „ob die Schweizer zur Minderheit im eigenen Land werden. Die Frage ist nur, wann es so weit sein wird? “ Diese Sprache lediglich als polemisches Grummeln einer konservativen Bürgerlichkeit zu betrachten, kann angesichts der Explosivität ihrer Folgerungen und der Radikalität des dahinterstehenden Weltbildes nicht länger eine legitime Option sein. Denn was hier anklingt, ist spätestens seit dem 15. März nichts anderes als die Sprache eines potentiell gewalttätigen und zunehmend globalisierten Extremismus von rechts. Mit dieser Sprache zu spielen, das Hassnarrativ vom Great Replacement oder verwandten Theorien politisch ausbeuten zu wollen, bedeutet letztlich nichts anderes, als fremdenfeindlichen Terrorismus ideologisch zu befeuern.
Marco Bitschnau ist Doktorand im nccr – on the move im Projekt Mobility, Diversity, and the Democratic Welfare State: Contested Solidarity in Historical and Political Comparative Perspective an der Universität Neuchâtel.