„Woher kommst du wirklich?“ Zugehörigkeit und Geschlecht in der Stadt Zürich
Unter dem hashtag #vonhier wird zurzeit in deutschsprachigen Medien teils hitzig darüber debattiert, wie die Frage nach der Herkunft interpretiert werden soll. Unsere Forschung zeigt auf, dass Erfahrungen von Personen, die als Kinder von Migrant*innen in der Schweiz aufwuchsen, nicht individuell sind, sondern oft von gesellschaftlich verankerten Grenzziehungen geprägt sind. Es offenbart sich ein Selbstbild der Schweiz, nach dem Ethnizität und Geschlecht wichtige Prinzipien von Zugehörigkeit sind.
Welchen Vorurteilen begegnen erwachsene Menschen, die als „Personen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet werden? Wie gehen sie damit um? Und welche Rolle spielt dabei Geschlecht in Verschränkung mit anderen Differenzkategorien? Um diese Fragen zu beantworten, führten wir qualitative Interviews mit 25- bis 40-jährigen Nachkommen von Migrant*innen in der Stadt Zürich.
Obwohl unsere Interviewpartner*innen seit Geburt in der Schweiz leben, bedeutet das nicht, dass sie automatisch als zugehörig akzeptiert werden und sich selbst als Teil der Gesellschaft betrachten. So meinte ein Interviewteilnehmer rückblickend: „In der Schulzeit ist das ein bisschen subtil. Es gibt keine konkreten Beispiele, aber du merkst schon, dass du ein bisschen ausgegrenzt wirst. Also, du bist immer der Ausländer. Nicht schlimm, also kein Rassismus, aber du bist nicht der Schweizer. Du wirst immer anders betrachtet als ein Schweizer“.
Solches „Anderssein“ aufgrund einer nicht-schweizerischen Herkunft der Eltern prägt viele alltägliche Erlebnisse unserer Interviewpartner*innen, was aufzeigt, dass im Schweizer Kontext die Unterscheidung zwischen Ausländer*innen und Schweizer*innen eine wirkmächtige Grenzziehung darstellt. Wie unsere Untersuchung veranschaulicht, kann diese über Generationen fortbestehen. Hierbei spielt eine untergeordnete Rolle, ob die Person die Schweizer Nationalität besitzt oder nicht. Obwohl viele Interviewpartner*innen formell dazugehören, wird ihnen auf symbolischer Ebene die Mitgliedschaft verwehrt. In der Wahrnehmung bestimmt oft nicht die tatsächliche Staatsbürgerschaft, wie jemand eingeordnet und kategorisiert wird. Es sind andere mit Geschlecht verwobene Merkmale, wie der Name, die Hautfarbe oder die Religion.
Grenzen ziehen: Du kennst keine Gleichberechtigung, du gehörst hier nicht dazu
Unsere Forschungsergebnisse veranschaulichen, wie Zugehörigkeit individuell und kollektiv ausgehandelt wird. Bei diesen Grenzziehungen zwischen „uns“ und „den Anderen“, bedingen sich externe Fremdzuschreibungen und subjektive Selbstverortung gegenseitig. In der oben erwähnten Debatte #vonhier macht die eine Seite darauf aufmerksam, dass sie in Deutschland geboren, also „von hier“ ist, und darum die Frage nach der „richtigen“ Herkunft als „verbale Ausbürgerung“ wahrnimmt. Die Gegenseite argumentiert, die Herkunftsfrage sei gerechtfertigtes Interesse und Neugier.
Auch Teilnehmende unserer Studie erzählten, dass sie immer wieder nach ihrer Herkunft befragt werden, wie das folgende Beispiel zeigt: „Ich meine nur schon: es kommt immer diese Frage: ‚Woher kommst du wirklich?‘ (…) Ich kann sagen: ‚Ja, ich bin Zürcher, ich bin hier aufgewachsen‘ und so weiter. Aber sie wollen immer wissen – und ich glaube nicht, dass es böse Absicht ist, (…) Und bei mir ist es nicht ganz so extrem. Aber wenn jemand wirklich braun ist oder man trägt ein Kopftuch, dann ist es noch viel extremer. Dann wird man immer darauf reduziert. (…) Wegen dem Namen oder weil ich nicht ganz so schweizerisch aussehe.“
Wie dieser Teilnehmer treffend erklärt, verschränken sich verschiedene Merkmale wie Hautfarbe, Religion oder Klasse und beeinflussen die externen Zuschreibungen. Hierbei spielt Geschlecht eine wichtige Rolle. Bestimmte Gruppen von Zugewanderten und ihre Nachkommen werden als besonders geschlechterungleich betrachtet. Vergeschlechtlichte Repräsentationen von muslimischen Frauen als Opfer, bzw. muslimischen und rassialisierten Männern als gewalttätig werden immer wieder an sie herangetragen. So sind unsere Interviewpartner*innen mit unterschiedlichen Kategorisierungen als anders und nicht-zugehörig konfrontiert. Wie der zitierte Verweis auf Hautfarbe oder Kopftuch hervorhebt, gibt es Abstufungen dessen, was als schweizerisch, bzw. nicht-schweizerisch angesehen wird. Erfahrungen mit herkunftsbezogener Ausgrenzung und Rassismus sind also je nach Kombination von Differenzmerkmalen unterschiedlich.
Realität anerkennen: „Ich bin Schweizerin und Muslimin“
Wird jemand ständig auf die Herkunft der Eltern oder Grosseltern und damit zusammenhängend auf ein spezifisches Bild von „anderer Kultur“ reduziert, bleibt ihr oder ihm wenig Spielraum, um sich als zugehörig zu definieren. Nichtsdestotrotz positionieren sich die Forschungsteilnehmenden auf unterschiedliche Weise gegenüber häufig erlebten Zuschreibungen.
Wie unsere Forschung zeigt, ist Geschlecht dabei mit sozioökonomischer Herkunft und Wohnort verwoben. Zum Beispiel wird jungen Männern aus weniger privilegierten Quartieren oft eine bestimmte Art von Männlichkeit zugeschrieben. Mehrere unserer Interviewteilnehmer beschrieben, wie sie als Jugendliche spielerisch mit der klischeebehafteten Rolle des „Macho-Gangsters“ aus dem migrantischen Arbeiterquartier umgingen. Gleichzeitig erzählten etliche Interviewpartnerinnen, dass sie als Muslimin oft auf ihre angebliche Unterdrückung angesprochen werden. Sie fordern, selbstverständlich als Schweizerin und Muslimin anerkannt zu werden.
Letztlich geht es sowohl unseren Forschungsteilnehmenden als auch uns als Forscherinnen darum, ein inklusiveres „wir“ einzufordern, das die Lebensrealitäten unserer Interviewpartner*innen anerkennt. Die Aussage eines Interviewpartners über die „Schweizer Kultur“ veranschaulicht dies: „Dann habe ich gesagt ‚was ist die Schweizer Kultur? Deine Kultur ist nicht die Schweizer Kultur, sondern auch meine Kultur in Zürich ist eine Schweizer Kultur. Migration ist eine Schweizer Kultur’. (…) Ich sage ‚ich bin Schweizer, aber nicht so wie du’.“ Hier kommt zum Ausdruck, wie ein vorherrschendes Verständnis von Schweizer-Sein, hinterfragt, umformuliert und als neue Selbstverständlichkeit eingefordert wird.
Welches Selbstbild der Schweiz?
Die Frage nach der „eigentlichen“ Herkunft ist eine von vielen Formen alltäglicher Ausgrenzung. Sie verortet die Befragten als nicht zugehörig, obwohl sie in der Schweiz geboren und aufgewachsen und häufig eingebürgert sind. Zugleich verweist die Frage „Woher kommst du?“ auf ein bestimmtes Selbstverständnis der Schweiz als ethno-national bzw. religiös-kulturell homogene Gesellschaft. Dazu kommt das Selbstbild als Gesellschaft, die sich an Geschlechtergleichheit orientiert, während Migrant*innen und ihre Nachkommen als geschlechterungleich porträtiert werden. Dieses Selbstverständnis entspricht nicht der Realität und zementiert Ungleichheiten, deren Überwindung damit verhindert wird.
Joanna Menet ist Postdoktorandin am nccr – on the move und dem Laboratoire d’études des processus sociaux (MAPS) an der Universität Neuchâtel. Sie arbeitet zu Mobilität, Transnationalisierung, Geschlecht und Ethnizität.