Kantonale Migrationspolitik im Wandel

03.12.2019 , in ((Migrationspolitik)) , ((Keine Kommentare))

Am 15. Oktober 2019 führte der nccr – on the move seinen vierten «Dialog unter Fachpersonen» durch. Auf der Basis unserer neuen Studie diskutierten die Teilnehmenden das breite Spektrum kantonaler Verwaltungspraktiken in den Bereichen Zulassung, Integration, Diskriminierungsschutz, Einbürgerung und Asyl sowie Fragen beschreibender, analytischer wie auch politischer Art. Im Zentrum stand dabei das grundlegende Spannungsfeld zwischen abweichender und konvergierender Politikgestaltung im Vollzugsföderalismus.

Die kürzlich vom SFM veröffentlichte Studie (Probst et al. 2019) wurde in engem Austausch mit Fachpersonen aus Behörden, NGOs und Wissenschaft vor- und nachbereitet. In diesem Austausch war es aufschlussreich zu erfahren, wie kontrastierend die (z.T. politisch geprägten) Perspektiven der Teilnehmenden waren, wobei sich gleichzeitig ein gewisser Konsens darüber abzeichnete, dass Handlungsspielräume grundsätzlich sachdienlich sind: Während verschiedene Verwaltungsvertretende eine zunehmende Einschränkung in der Verwaltungspraxis bemängelten, sich dabei allerdings vielfach auf den Umgang mit der Zuwanderung aus der EU bezogen, sprachen sich auch Fachleute aus NGOs nicht unbedingt für eine stärkere Harmonisierung aus.

Beides könnte damit zusammenhängen, dass die meisten Befragten dazu neigen, kantonalen Instanzen mehr Vertrauen entgegen zu bringen als der Bundesverwaltung, die als entfernter und weniger berechenbar wahrgenommen wird. Diese Schlussfolgerung scheint umso naheliegender, als die vorliegenden Studienerkenntnisse einen klaren Zusammenhang zwischen der Orientierung der Verwaltungspraxis (Inklusivitätsgrad), dem demografischen Profil einschliesslich Urbanisierungsgrad und der politischen Ausrichtung der Kantone belegen. Somit ist auch verständlich, dass für viele Akteure ein Spielraum gegenüber Bundesvorgaben grundsätzlich wünschenswert ist, um kontextspezifischen Gegebenheiten besser Rechnung tragen zu können.

Am Fachdialog des NCCR wurden aus internationaler Perspektive weitere Argumente thematisiert, die gegen eine möglichst grosse Konvergenz der kantonalen Politik sprechen. So etwa der Hinweis auf das föderale oder lokale «Labor», das die Erprobung innovativer Praxismodelle ermöglicht, die mitunter pragmatischer und sachbezogener ausgestaltet sind, als dies auf der stärker «politisierten» Bundesebene der Fall ist.

Stark variierende Verwaltungspraxis kann Chancengleichheit beeinträchtigen

Allerdings lässt sich umgekehrt einwenden, dass grosse kantonale Unterschiede insbesondere aus der Perspektive der Migrierten zahlreiche Fragen betreffend Chancengerechtigkeit und Nachvollziehrbarkeit der Politik aufwerfen. Diesem Umstand gebührt gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil sich ein Trend dahin abzeichnet, dass Kantone verbleibende Spielräume umso stärker ausschöpfen, als solche in Teilbereichen der Migrationspolitik stark begrenzt wurden. Dies gilt etwa bei der Zulassung und Integration der Staatsangehörigen von EU/EFTA-Ländern, welche dem Freizügigkeitsabkommen unterstehen. In diesem Zusammenhang war mehrfach die Rede von einer «Verrechtlichung» der Praxis, die zwar Rechtssicherheit für die Betroffenen schafft, aber integrationspolitisch auch die Gefahr einer «Zweiklassengesellschaft» birgt, wie Thomas Minger im nächsten Beitrag zu dieser Serie thematisieren wird. Frappant ist jedenfalls, dass Aufenthalts- und Integrationsbedingungen für vorläufig Aufgenommene und selbst für anerkannte Flüchtlinge sowohl inter- wie auch innerkantonal massgeblich auseinanderklaffen. In den letzten Jahren zeichneten sich diesbezüglich grössere Veränderungen beispielsweise in der Sozialhilfe ab, die wenig mit evidenzbasierter Politikgestaltung zu tun haben. Möglicherweise stiess auch daher Mingers Vorschlag eines «Legiferierungsmoratoriums» für etwas Ruhe in der Migrationspolitik an der Fachtagung auf manifestes Interesse.

Ermessensspielräume müssen sachbezogenen und transparenten Regeln folgen

Bilanzierend zeichnet sich ein gewisser Grundkonsens zwischen Fachpersonen und Studienautor*innen ab, nämlich dass sich letztlich nur von Fall zu Fall entscheiden lässt, wann kantonale Handlungs- und Ermessensspielräume sinnvoll oder gar notwendig bzw. wann sie zu vermeiden sind. Erfahrungsgemäss werden Praxisunterschiede dann besser akzeptiert, wenn sie auf tatsächliche Unterschiede, beispielsweise bei Lebenshaltungskosten oder Lage auf dem Wohnungsmarkt abstellen und eine entsprechende Flexibilität der Vorgaben legitimieren. Allerdings kommen auch immer wieder politische Einflüsse zum Tragen, was sich am Beispiel der Härtefallpraxis in eindrücklicher Weise zeigt: Je nach vorherrschender politischer Orientierung wird diese Regularisierungsmöglichkeit als Chance grosszügig ausgelegt oder umgekehrt mit höchster Zurückhaltung angewandt. Dies hat für die Betroffenen umso einschneidendere Konsequenzen, als in vielen Kantonen nur beschränkte Rechtswege gegen entsprechende Entscheide bestehen.

Konzertierte Vereinheitlichung

Im Rahmen der Studie wie auch anlässlich des Dialogs unter Fachleuten wurde ferner mehrfach betont, dass eine Praxisangleichung nur dann auf breite Akzeptanz stösst, wenn sie nicht von oben verfügt, sondern durch einen breit abgestützten Aushandlungsprozess zwischen Städten, Bund und Kantonen zu Stande kommt. Beispielhaft geschah dies nun bei der Verankerung des Diskriminierungsschutzes im Rahmen der Kantonalen Integrationsprogramme (KIP), auch wenn die Implementierung zweifellos noch verbesserungswürdig ist. Ein konzertiertes Vorgehen wurde auch bei der Erarbeitung der Integrationsagenda Schweiz gewählt, die allerdings erst nach Abschluss der vorliegenden Studie in Kraft trat. Daher bleibt eine Einschätzung, inwiefern sie die gesteckten Zielsetzungen ein- und im Asylbereich einen ähnlichen Harmonisierungsschub wie bei den KIP auslösen wird, zukünftigen Erhebungen vorbehalten.

Ausblick auf die Serie

Die folgenden Beiträge zu dieser Serie diskutieren diese und weitere Erkenntnisse unserer Studie sowie aktuelle Entwicklungen der föderalen Migrationspolitik in der Schweiz aus verschiedenen Perspektiven. Den Auftakt macht der erwähnte Beitrag von Thomas Minger, gefolgt von Laure Sandoz’ wissenschaftlichem Kommentar zur arbeitsmarktlichen Zulassungspraxis. Anschliessend reflektiert Michael Bischof aus Sicht des Diskriminierungsschutzes die an der Veranstaltung geführten Diskussionen zum Thema Integrationsförderung. Die Serie wird abgerundet mit einer Nachlese von Simone Prodolliet zur Podiumsdiskussion der Dialogveranstaltung.

Wir wünschen « bonne lecture » !

Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin und Vizedirektorin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel. Sie ist Ko-Projektleiterin und Mitautorin der hier thematisierten Studie.

Referenzen:

– Probst, Johanna, Gianni D’Amato, Samantha Dunning, Denise Efionayi-Mäder, Joëlle Fehlmann, Andreas Perret, Didier Ruedin und Irina Sille (2019). Kantonale Spielräume im Wandel: Migrationspolitik in der Schweiz. Neuchâtel: Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien.

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