Zuwanderungs- und Aufenthaltssteuerung via Sozialhilfe?
Am 15. Januar 2020 hat der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beauftragt, sechs Massnahmen im Zusammenhang mit dem Bezug von Sozialhilfe durch Drittstaatsangehörige umzusetzen und zwei weitere zu prüfen. So soll ein erleichterter Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Einschränkung der Sozialhilfe für Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in der Schweiz erfolgen. Der Vernehmlassungsvorlage ist für Ende Februar 2021 angekündigt und sorgt bereits für Aufmerksamkeit.
Die am 9. Februar 2014 angenommene Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» legt in Art. 121a Absatz 2 und 3 der Schweizer Bundesverfassung fest, dass «der Anspruch auf Sozialleistungen (…) beschränkt werden» kann. Und dass, die «massgebenden Kriterien für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen (…) insbesondere eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage » beinhalten. So hat bereits die Teilrevision (2013-2016) des Ausländer*innen- und Integrationsgesetzes, in Kraft seit dem 1. Januar 2019, den aufenthaltsrechtlichen Schutz von niedergelassenen Personen geschmälert. Neu kann allen ausländischen Personen die Niederlassungsbewilligung aufgrund des Bezugs von Sozialhilfe entzogen werden. Bis vor dem 1. Januar 2019 war dies bei niedergelassenen Personen, welche sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsmässig in der Schweiz aufhielten, ausgeschlossen. Die Streichung dieses «Schutzmechanismus» fand im damaligen Vernehmlassungsverfahren grossen Zuspruch.
Im Jahr 2017 reichte die Staatspolitische Kommission des Ständerats ein Postulat zur Prüfung der Kompetenzen des Bundes im Bereich der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten ein. Der Bundesrat beantragte die Annahme und ein Bericht in Erfüllung des Postulats wurde im Juni 2019 veröffentlicht. Dieser Bericht basiert auf zwei externen Studien, einer statistischen Auswertung bezüglich des Sozialbezugs von Ausländerinnen und Ausländern aus Drittstaaten und Erläuterungen zur Praxis der Kantone.
Der Bericht des Bundesrat hält unter anderem fest, dass die Vorgehensweisen, die Richtwerte und die institutionellen Rahmenbedingungen bezüglich des Entzugs einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung je nach Kanton unterschiedlich sind. Zudem hängt das «Risiko», Sozialhilfe zu beziehen, von den Gründen des Aufenthalts ab. So sind Personen, welche zu Erwerbs- und Ausbildungszwecken in die Schweiz eingereist sind, praktisch nie auf Sozialhilfe angewiesen. Anders sieht die Situation von Drittstaatsagenhörigen aus, welche im Rahmen des Familiennachzugs eingereist sind.
Unterschiedliche Akteurinnen und Akteure mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen
Da die Gesetzgebung zur Sozialhilfe im Zuständigkeitsbereich der Kantone, jene im Bereich Zuwanderung und Aufenthalt beim Bund liegt, kann der Bund lediglich im Bereich des Ausländer*innen- und Integrationsgesetzes Änderungen vorschlagen.
Die Themengebiete Sozialhilfebezug, Integration und Verwarnung / Entzug / Nichtverlängerung von Aufenthalts- respektive Niederlassungsbewilligungen involviert verschiedene Akteur*innen aus unterschiedlichen Berufszweigen. So werden zwischen den Migrations-, Sozialhilfe-, und Integrationsbehörden auf kommunaler und kantonaler Ebene und / oder dem Staatsekretariat für Migration Informationen ausgetauscht. Entsprechend komplex gestaltet sich die Praxis, was das folgende Zitat unterstreicht:
«Gleichzeitig kann man nicht erwarten, dass auf Gemeindeebene das notwendige Wissen besteht. Gemeinden, die im Ausländerbereich Sozialhilfe auszahlen – die Leute dort haben wenig Ahnung, das kann man aber auch nicht verlangen. Für diese gibt es das kantonale Praxishandbuch und die Leute halten sich dann daran, denn Sozialarbeiter, etc. die dort arbeiten, haben in der Ausbildung keine spezifischen Kurse gehabt. Aber das kantonale Praxishandbuch kollidiert dann auch mit den Verordnungen des Bundes…».
(aus einem Interview mit einer Stelle für Rechtsberatung, 2019)
Laufendes Forschungsprojekt
Das laufende nccr – on the move-Forschungsprojekt «Governing Migration and Social Cohesion through Integration Requirements: A Socio-Legal Study on Civic Stratification in Switzerland» geht der Frage nach, was die Androhung des Entzug/ der Entzug und/oder die Nichtverlängerung von Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligungen aufgrund von Sozialhilfebezug über die Regulierung des sozialen Zusammenlebens und Vorstellungen des sozialen Zusammenhalts in der Schweiz aussagt.
Erste explorative Ergebnisse unterstreichen die Komplexität des Themas. So werden beispielsweise Aufgaben der Migrationskontrolle und Statusüberprüfung an Sozialdienste ‘ausgelagert’ oder Gemeinden versuchen, ihre Sozialhilfekosten via Massnahmen von Migrationsämtern zu senken. Diese Diffusion von Aufgaben führt zu komplexen Kommunikationsherausforderungen und der Notwendigkeit, unterschiedliche Berufs-Ethiken und Ziele zu berücksichtigen und voneinander abzugrenzen. Das Stichwort «Sozialhilfe», als Teil der Sozialpolitik, wird als «Grenzziehungsmechanismus» mobilisiert, um festzuhalten, welche Verhaltensweisen gemäss Migrationsgesetzgebung als (nicht) «integriert» gelten. Dies deutet auf eine stärkere Annäherung und Vermischung der Zielsetzungen und Aufgaben der Sozialhilfe einerseits und der Zuwanderungs- und Aufenthaltssteuerung andererseits hin.
Stefanie Kurt ist Assistenzprofessorin (Tenure Track) an der HES-SO Valais-Wallis am Institut Soziale Arbeit in Siders (VS). Christin Achermann ist Professorin für Migration, Recht und Gesellschaft an der Universität Neuenburg. Lisa Marie Borrelli ist PostDoc an der HES-SO Valais-Wallis am Institut Soziale Arbeit in Siders (VS). Luca Pfirter ist Doktorand am Zentrum für Migrationsrecht (ZFM/CDM) an der Universität Neuenburg.
Die vier Autor*innen arbeiten zusammen im nccr – on the move Projekt Governing Migration and Social Cohesion Through Integration Requirements: A Socio-legal Study on Civic Stratification in Switzerland.