Genf – eine Ausnahme in der Schweiz
Das letzte Schweizer Beispiel einer «sanctuary city» ist Genf. Weshalb der in Genf gewählte Ansatz für den Schutz irregulärer Migrant*innen im schweizerischen Kontext eine Ausnahme darstellt, erklärt Marianne Halle, die an der Ausarbeitung des Pilotprojekts «Opération Papyrus» beteiligt war.
Das Pilotprojekt Opération Papyrus wurde zwischen dem 21. Februar 2017 und dem 31. Dezember 2018 durchgeführt. An dessen Ausgestaltung beteiligt waren das Staatssekretariat für Migration (SEM), die kantonalen Behörden sowie die wichtigsten NGOs und Gewerkschaften Genfs. Rund 3000 vormals irregulär in Genf lebende Personen dürften durch Operation Papyrus eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben.
Opération Papyrus basiert auf Artikel 30 Abs. 1 lit. b des Ausländer*innen- und Integrationsgesetzes (AIG). Dieser sieht die Möglichkeit vor, von den ordentlichen Voraussetzungen (Art. 18 – 29 AIG) für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung abzuweichen, um schwerwiegenden persönlichen Härtefällen Rechnung zu tragen. Für Menschen mit einem irregulären Aufenthaltsstatus ist das fast die einzige Möglichkeit, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten und so ihrer prekären und vulnerablen Situation zu entfliehen. Ein Antrag auf eine Härtefallbewilligung ist jedoch in der Regel ein langwieriger, unberechenbarer Prozess, der nur selten erfolgreich ausgeht.
Opération Papyrus: Fünf Kriterien für einen regularisierten Status
Ziel des Pilotprojektes in Genf war es deshalb, im gesetzlich vorgegebenen Rahmen einen vereinfachten, klar strukturierten und dadurch weniger willkürlichen Bewilligungsprozess für einen regularisierten Aufenthalt zu schaffen. Eine der ersten Aufgaben der mit der Vorbereitung der Opération Papyrus beauftragten Gruppe war die Eingrenzung der Zielgruppe. Dafür stellten lokale NGOs und Gewerkschaften zentrales Fachwissen und Informationen über die betroffenen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung. Zudem wurden begleitende Massnahmen erarbeitet, um den möglichen negativen Effekten eines Regularisierungsprogramms entgegen zu wirken – hauptsächlich im Bereich der Arbeitsmarktkontrolle.
Schliesslich definierten wir nach jahrelangen Diskussionen und Verhandlungen fünf Kriterien, die für die Prüfung eines Antrages auf eine Härtefallbewilligung zu beurteilen sind. Eine Aufenthaltsdauer von fünf respektive zehn Jahren ist die erste Voraussetzung. Zweitens muss der*die Antragssteller*in einem Arbeitsverhältnis stehen und drittens finanziell unabhängig sein. Die antragsstellende Person muss viertens einen Sprachnachweis vorlegen und fünftens einen eintragsfreien Strafregisterauszug vorweisen können. Das Festlegen dieser fünf auf der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) basierenden Kriterien ermöglichte die Einführung eines standardisierten Regularisierungsprozesses.
Erfolgsfaktoren: Nähe zur Zielgruppe und gute Zusammenarbeit mit den Behörden
Einige positive Einflussfaktoren begünstigten die Umsetzung der Opération Papyrus im Kanton Genf. Erstens existierte in Genf eine Zielgruppe von beträchtlicher Grösse, die alle Kriterien für eine Regularisierung erfüllte. Denn irreguläre Migrant*innen lassen sich aus verschiedenen Gründen (Arbeitsmöglichkeiten, Anonymität, bestehende Unterstützungssysteme usw.) tendenziell in städtischen Gebieten nieder- und Genf als Stadtkanton bildet keine Ausnahme. Darüber hinaus setzen sich lokale NGOs und Gewerkschaften seit Anfang der 2000er Jahre für eine umsetzbare und humane Politik zugunsten von Migrant*innen ohne Papiere ein, wobei sie sich ein umfassendes Wissen über diese Bevölkerungsgruppe aneignen und ihr Vertrauen gewinnen konnten. Irreguläre Migrant*innen und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen standen daher seit vielen Jahren auf der politischen Agenda. Diese günstigen Voraussetzungen ermöglichten, dass die problematische Situation der irregulären Migration frühzeitig anerkannt wurde und die Suche nach einer pragmatischen und proaktiven Lösung eingeleitet werden konnte.
All diese Elemente trugen dazu bei, dass wir uns bei der Umsetzung der Opération Papyrus auf viele bereits bestehende Strukturen stützen konnten. Ein weiterer zentraler Erfolgsfaktor war der konstante Dialog zwischen den involvierten Akteuren, insbesondere ein etablierter Austausch zwischen beratenden Organisationen und Behörden auf kantonaler sowie Bundesebene.
Trotz der Erfolge sind einige Probleme nach wie vor ungelöst. Die definierten Kriterien sind restriktiv und schliessen viele irreguläre Migrant*innen von dieser Regularisierungsmassnahme aus. Hinzukommt, dass abgewiesene Asylsuchende keinen Zugang zur Opération Papyrus haben, da sie auf der Grundlage des Art. 30 AIG keine Ansprüche geltend machen können, solange ihr Asylverfahren nicht als offiziell abgeschlossen gilt. Zudem können einige irreguläre Migrant*innen, die eine Aufenthaltsbewilligung durch Papyrus erhalten haben, diese nur mit Mühe behalten. Dies liegt allerdings nicht am Regularisierungsprozess an sich, sondern vielmehr an der restriktiven Migrationspolitik der Schweiz und betrifft grundsätzlich viele Migrant*innen. Das Problem der irregulären Migration ist in Genf also noch nicht vollumfänglich gelöst. Dennoch war die Opération Papyrus ein Schritt in die richtige Richtung.
Opération Papyrus hat gezeigt, dass die Einführung einer grosszügigeren und humaneren Regularisierungsstrategie rechtlich, praktisch und politisch möglich ist. Negative Konsequenzen für Bund und andere Kantone blieben aus, während die Auswirkungen für die betroffenen Personen überwältigend positiv waren. Zudem wurde durch dieses Pilotprojekt das Bewusstsein für die Problematik der irregulären Migration geschärft und sichtbar, wie bedeutsam die von irregulären Migrant*innen geleistete Arbeit im Haushaltssektor sowie im Pflegesektor ist.
Marianne Halle hat an der Universität Genf Geschichte studiert. Seit 2010 arbeitet sie als Verantwortliche für Kommunikation und Public Relations bei CCSI (Centre de Contact Suisses-Immigrés). Sie war Mitglied der Expert*innengruppe, die das Pilotprojekt «Opération Papyrus» in Genf ausgearbeitet hat.