Der Ausländeranteil: Rest in Peace

02.06.2020 , in ((Social Work)) , ((Keine Kommentare))

Begriffe sind praktisch, wenn sie uns helfen, die Welt zu verstehen. Darum hat der sogenannte Ausländeranteil eigentlich ausgedient: Er stiftet mehr Verwirrung als etwas Anderes. Beide Säulen, auf denen er beruht, geraten aktuell ins Wanken: der ethnische Gruppismus und die Problemorientierung. Statistiker*innen, Soziolog*innen sowie Politiker*innen unterschiedlicher Couleur sollten auf diesen vertrauten Begriff verzichten, der ihnen allzu leicht von der Zunge geht.

Die Figur des Fremden ist so alt wie die Menschheit. Doch mit der Bildung der modernen Nationalstaaten wurde die Grenze zwischen innen und aussen auf neue Weise festgeschrieben – auf Karten, in Amtsstuben, und in den Köpfen der breiten Bevölkerung. Wir haben uns daran gewöhnt, die Menschheit aufzuteilen in Italiener*innen und Deutsche, in Afrikaner*innen und Asiat*innen, etc.

Ethnischer Gruppismus

Dieses Wahrnehmungsmuster, das dem Begriff des Ausländeranteils zu Grunde liegt, nennt der Soziologe Rogers Brubaker ethnischen Gruppismus. Ethnizität ist demnach eine Art und Weise, die Welt zu betrachten. Menschen sind nicht von selbst In- oder Ausländer*innen, sondern sie werden zu solchen gemacht. Trotz Globalisierung und alltäglicher Präsenz vielfältiger Migrationsphänomene ist dieses Wahrnehmungsmuster immer noch tief verankert in der Bevölkerung. Wenn Menschen nicht eindeutig als In- oder Ausländer*innen erscheinen, ruft dies Irritationen hervor. Sehr deutlich zeigte sich dies im Sommer 2018, als zwei Spieler der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft das Symbol des albanischen Doppeladlers zeigten. Journalist*innen und Politiker*innen zeigten sich schockiert, und Verbandsfunktionär*innen gerieten in Erklärungsnot.

Dabei ist hinlänglich bekannt, dass in der Schweiz zahlreiche Menschen mit schweizerischer Nationalität leben, deren Eltern Ausländer*innen sind (oder waren). Die offizielle Statistik trägt dem Phänomen inzwischen Rechnung, indem die Bevölkerung nach Migrationshintergrund unterteilt wird. Das Bundesamt für Statistik weist den Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund für 2018 mit 38.5 Prozent aus, während der Anteil der Ausländer*innen mit 26.9 Prozent deutlich tiefer liegt.

Doch wir müssen genauer hinschauen. So gelten Eingebürgerte oder Ausländer*innen, deren Eltern in der Schweiz geboren sind, als Personen ohne Migrationshintergrund. Dasselbe gilt für gebürtige Schweizer*innen, die im Ausland geboren sind, sofern mindestens ein Elternteil in der Schweiz geboren ist. Ein verbreitetes Phänomen ist zudem die doppelte Staatsbürgerschaft. Laut Bundesamt für Statistik lag der Anteil der Personen mit diesem Status 2018 bei 18.1 Prozent. Das entspricht beinahe einer Million Menschen.

Trotzdem stützt sich die Integrationspolitik weiterhin fraglos auf diese Unterscheidung zwischen In- und Ausländer*innen. Die Widersprüchlichkeit dieses Vorgehens zeigt sich besonders deutlich im Schulbereich. Als bislang einziger Kanton hat Basel-Stadt 2013 ein selektives Deutsch-Obligatorium vor dem Kindergarten eingeführt. Die Statistik für 2018 zeigt, dass 24 Prozent der Kinder mit schweizerischer Nationalität wegen ungenügender Sprachkenntnisse unter diese Verpflichtung fallen. Es ist nicht davon auszugehen, dass hier mehrheitlich Familien aus anderen Sprachregionen des Landes betroffen sind. Vielmehr dürften die meisten dieser Kinder eingebürgerte Eltern haben. Im urbanen Kontext gilt mitunter ein Grossteil der Kinder mit schweizerischer Nationalität als fremdsprachig. In der Primarschule eines Basler Stadtquartiers hat zum Beispiel knapp die Hälfte der Schüler*innen die schweizerische Nationalität, aber bloss 20 Prozent Deutsch als Erstsprache. Dies bedeutet nicht, dass 80 Prozent der Kinder kein Deutsch können, denn zahlreiche Kinder sind mehrsprachig. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt eine solche Schule dennoch als problembelastete Schule.

Problemorientierung

Dies verweist auf die zweite Säule des Ausländeranteils: die Problemorientierung. Das Interesse am Begriff ist so gross, weil er sich scheinbar dafür eignet, Probleme zu benennen. Dies zeigt sich vor allem in der Politik – im rechten ebenso wie im linken Spektrum. Politiker*innen des rechten Lagers verknüpfen seit Jahren alle Probleme mit Migration. Der Ausländeranteil ist aber auch für zahlreiche Politiker*innen des linken Spektrums ein wichtiger Indikator. Sie verbinden mit diesem Begriff Vorstellungen von Benachteiligung sowie die Notwendigkeit besonderer Unterstützungsangebote. Wie der Migrationsforscher Hartmut M. Griese gezeigt hat, weist die Problemorientierung deshalb zwei Seiten auf. Für die einen machen die Ausländer*innen Probleme, für die anderen haben sie Probleme. In beiden Fällen wird der Ausländeranteil zum Problem gemacht.

Zwei aktuelle Entwicklungen erschüttern zumindest die linke Problemorientierung: Zum einen hat seit der Jahrtausendwende die Einwanderung hoch qualifizierter Personen in die Schweiz stark zugenommen. Dies passt nicht mehr ins klassische Bild der benachteiligten Ausländer*innen, welche die Arbeit verrichten, die kein*e Schweizer*in verrichten will. In Zürich lässt sich zum Beispiel eine Angleichung des Ausländeranteils zwischen den Stadtquartieren beobachten. Während in populären Quartieren Ausländer*innen mit tiefem Sozialstatus durch Schweizer*innen verdrängt werden, steigt der Ausländeranteil in den privilegierten Quartieren durch den Zuzug von Migrant*innen mit hohem Sozialstatus.

Zum anderen hat eine neue Generation von Autor*innen und Aktivist*innen begonnen, den linken Ethnozentrismus zu kritisieren. Dieser äusserst sich in der Selbstverständlichkeit, mit der sich viele Linke berufen fühlen, Ausländer*innen zu helfen. Wer aber die Diskussionen über die postmigrantische oder postkoloniale Schweiz ernst nimmt, kann es sich nicht mehr leisten, einen hohen Ausländeranteil als Indiz für ein Problem zu betrachten. Statt sich über die scheinbar armen Ausländer*innen zu beugen, um ihnen zu helfen, gilt es, diese Menschen als Akteur*innen ihrer eigenen – und unser aller – Geschichte zu anerkennen und mit ihnen gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

Rest in Peace

Selbstverständlich sind die behördlichen Klassifikationen und die statistischen Daten, auf die sich die Integrationspolitik stützt, äusserst wichtig. Wir sollten ihnen Aufmerksamkeit schenken, in dem wir sie zum Gegenstand unserer Analyse und Kritik machen. Wenn wir sie aber unreflektiert einsetzen, um die Welt zu betrachten, stiften wir im besten Fall bloss Verwirrung, tragen im schlechteren Fall aber zum Nährboden von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bei. Deshalb möge der Ausländeranteil fortan in Frieden ruhen.

Peter Streckeisen ist Dozent am Departement Soziale Arbeit der ZHAW und Privatdozent für Soziologie an der Universität Basel.

Quellen:

– Brubakers, Roger (2007). Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition.
– Griese, Hartmut M. (Hg.) (2002). Was ist eigentlich das Problem am Ausländerproblem? Berlin: IKO-Verlag.
– Wanner, Philippe und Steiner, Ilka (2018). Ein spektakulärer Anstieg der hochqualifizierten Zuwanderung in die Schweiz, Social Change in Switzerland 16.

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