Kopftuch ≠ Integration ?
Die Kopftuchverbotsfrage ist zurück. Vor kurzem hat die Stadt Adliswil (ZH) einen neuen Artikel im Personalstatut verankert, der vorsieht, dass Mitarbeitende zum religiös-neutralen Verhalten verpflichten werden können. Ebenso werden die Walliser StimmbürgerInnen über die kürzlich zustande gekommene Initiative für ein Kopftuchverbot im Kanton Wallis abstimmen. Welche Rolle spielt dabei die Religionsfreiheit? Besteht ein öffentliches Interesse an einem Verbot? Und fördern Verbote Integration?
Grundrechte können eingeschränkt werden – vorausgesetzt dass…
Bei der grundrechtlichen Prüfung eines Kopftuchverbots sind nebst dem Grundrecht der Religionsfreiheit, auch das Recht auf persönliche Freiheit, das Gebot der Rechtsgleichheit und das Verbot von Diskriminierung zu prüfen. Die in der Schweizer Bundesverfassung verankerten Grundrechte gelten nicht ohne Einschränkungen. Gemäss Art. 36 BV bedürfen Einschränkungen einer gesetzlichen Grundlage. Ebenso muss eine Einschränkung durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.
Unter den Begriff des öffentlichen Interesses fallen in etwa der Schutz des religiösen Friedens, die weltanschauliche/religiöse Neutralität des Staates und die Integrationsfrage.
- Der Schutz des religiösen Friedens ist ein wichtiges historisch gewachsenes Anliegen, um den religiösen Frieden in der Schweiz zu gewährleisten.
- Die weltanschauliche/religiöse Neutralität ist eine Leitlinie für den Staat im Umgang mit religiösen Einschränkungen. Staatliche Eingriffe sind so auszugestalten, dass nicht nur einzelne Religionsgemeinschaften oder bestimmte Angehörige einer Religionsgemeinschaft betroffen sind. Gleichzeitig darf der Staat keiner Religion den Vorzug geben oder sich zu einer Religion bekennen.
- Die Integrationsfrage ist grundsätzlich ein wichtiges öffentliches Interesse. Gewisse Einschränkungen in Grundrechte sollen dann möglich und gerechtfertigt sein, wenn sie die öffentlichen Integrationsbestrebungen unterstützen. Es soll gewährleistet sein, dass sich alle Menschen, ungeachtet ihres Glaubens, in das Gemeinweisen eingliedern können. Miteinbezogen werden muss meines Erachtens aber auch das persönliche Interesse der betroffenen Person hinsichtlich der staatlichen Integrationsforderung.
Der Schutz der Grundrechte Dritter fragt danach, ob das religiöse Verhalten in den Schutzbereich einer Drittperson eingreift. Der Eingriff in die Religionsfreiheit muss schliesslich auch verhältnismässig sein. Konkret ist also zu fragen, ob der Grundrechtseingriff geeignet und erforderlich ist, um die angestrebten öffentlichen Interessen zu verwirklichen. Gibt es kein milderes Mittel, das anvisierte Ziel zu erreichen? Als letzte Frage dieses juristischen Prüfschemas wird geschaut, ob der Kerngehalt eines Grundrechts eingeschränkt wird.
Rechtsprechung des Bundesgerichts: die öffentliche Schule und das Kopftuch
Im Jahr 1997 bestätigte das Bundesgericht das Kopftuchtrageverbot für eine Lehrerin an einer öffentlichen Schule in Genf. Die RichterInnen argumentierten, dass Lehrpersonen angehalten sind, sich religiös neutral zu verhalten. Entsprechend sind Glaubensäusserungen nur sehr zurückhaltend zu tätigen. Das Bundgericht gewichtete das öffentliche Interesse, namentlich die Grundrechte Dritter, höher und verneinte eine Verletzung der Religionsfreiheit (BGE 123 I 296).
Im Frühling 2011 stellten zwei kopftuchtragende Mädchen, ein Dispensationsgesuch, um von der Kopftuchverbotsbestimmung an ihrer Schule ausgenommen zu werden. Das Bundesgericht stützte dabei den Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts und erklärte, dass der Eingriff in das Grundrecht der beiden Schülerinnen in unzulässiger Weise erfolgt sei. Die gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot ist ungenügend und der Eingriff auch nicht verhältnismässig (BGE 139 I 280).
Das Bundesgericht hat in einem anderen Sachverhalt im Dezember 2015 entschieden, dass Schülerinnen mit Kopftuch die öffentliche Schule besuchen dürfen, weil ein Kopftuchverbot die Religionsfreiheit verletze. Ebenso unterliegen Schülerinnen, anders als Lehrerinnen, nicht der Pflicht zur religiösen Neutralität. Gleichzeitig ist der Schulbesuch unter dem Aspekt der Integration und der Chancengleichheit zu gewährleisten. Das Bundesgericht hielt abschliessend fest, dass ein allfälliges Kopftuchverbot im Unterricht im Einzelfall ausgesprochen werden kann. Dies wenn beispielsweise ein öffentliches Interesse, wie die Rechte der Kinder oder Grundrechter Dritter, bestehe (Urteil 2C_121/2015 vom 11.12.2015).
Es zählt was im Kopf drin und nicht was auf dem Kopf drauf ist
Staatliche Kopftuchverbote bewirken Ausgrenzung und Stigmatisierung und höhlen die Chancengleichheit der betroffenen muslimischen Frauen aus. Das Integrationsinteresse einer kopftuchtragenden Frau, sich sozio-kulturell wie ökonomisch in die Gesellschaft einzufinden, muss als gewichtiges öffentliches Interesse gelten – das eben diese Möglichkeit der sozialen und ökonomischen Eingliederung fordert, unabhängig der Religion. Entsprechend dürfen sich staatlich verordnete Verbote nicht auf das öffentliche Integrationsinteresse stützen. Im Gegenteil: der knapp 10-jährige Entscheid, der muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs an der öffentlichen Schule verbietet, hat weitreichende Konsequenzen. Frauen, und dabei ausschliesslich muslimische Frauen, werden vom Lehrberuf an der öffentlichen Schule ausgeschlossen, sofern sie ein Kopftuch tragen wollen. Diese Praxis ist nicht nur hinsichtlich des Rechtgleichheitsgebots und dem Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Religion höchstproblematisch – nein – sie widerspricht auch den aktuellen (politischen und wirtschaftlichen) Forderungen nach stärkerer Einbindung der Frauen im Arbeitsmarkt.
Eine ähnliche Wirkung hat der im Personalstatut von Adliswil eingeführte Artikel. Dieser gibt zwar den Behörden erst eine gesetzliche Handhabung für ein Verbot von religiösen Symbolen. Gleichzeitig wirkt er aber abschreckend hinsichtlich allfälliger Bewerbungen und der aktiven Einbindung von muslimischen Frauen in den Arbeitsmarkt.
Sichtbare Vielfalt in der Gesellschaft und im Arbeitsleben kann nur geschaffen werden, wenn sie letztlich auch zugelassen wird. Dabei kann unter Umständen ein Eingriff in die Grundrechte Dritter gegeben sein. Fraglich ist jedoch, inwiefern diese so massiv sein sollen, dass mit generalpräventiven Verboten agiert werden muss.
Stefanie Kurt
PostDoc, nccr – on the move, Universität Neuenburg