Edito: Wie das Migrationsrecht Prekaritäten verschärft

09.06.2021 , in ((Social Work)) , ((Pas de commentaires))

Die dritte Blogserie zu Sozialer Arbeit, Migration, Mobilität und Integration thematisiert erneut unterschiedliche Grenzziehungsmechanismen in diesem Spannungsfeld. Die Beiträge beleuchten, wie auch in der Sozialen Arbeit verhaftete soziale, (migrations-)rechtliche, politische und nationalstaatliche Grenzen zur Prekarisierung von Menschen beitragen. Das Bewusstsein dafür und entsprechende Handlungsstrategien für den Umgang damit sind aktuell umso wichtiger.

Zahlreiche Beiträge und Datenbanken illustrieren die Auswirkungen der epidemiologischen Situation aufgrund von COVID-19, beispielsweise auf Reisebeschränkungen, auf junge Forschende oder die Soziale Arbeit. So auch die im April 2021 von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FNHW) publizierte Studie zur «Arbeitssituation, Belastung und Gesundheit von Fachpersonen der Sozialen Arbeit in der Schweiz» im Zusammenhang mit COVID-19, die aufzeigt, dass die Profession Soziale Arbeit «am und über dem Limit» läuft.

Die Tätigkeitsfelder der Soziale Arbeit, wie beispielsweise die Migrationsarbeit, Kinder- und Jugendarbeit, die Sozialdienste und andere Institutionen waren und sind aktuell auf unterschiedliche Art und Weise stark gefordert. So zeigt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), dass sich in den ersten zwei Wochen nach dem Lockdown im März 2020 die Zahl der Sozialanträge vervierfachte. Die sozialen Konsequenzen der COVID-19-Krise sind vielfältig und offen ist, was für sozialpolitische, rechtliche und gesellschaftliche Fragen sie in der Zukunft aufwerfen werden.

Die aktuelle Verschärfung der Prekarität von Menschen mit und ohne Schweizer Pass

Bereits jetzt zeigt sich jedoch, dass sie Menschen mit und ohne Schweizer Pass (rechtlich) unterschiedlich treffen. So können etwa ausländische Personen, die ein ‘Integrationsdefizit‘ aufweisen, auf der Basis des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) ihren Aufenthaltsstatus verlieren. Als ‘Integrationsdefizit‘ kann die Nichterfüllung der Integrationskriterien verstanden werden, welche sich aus der Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Respektierung der Werte der Bundesverfassung, Sprachkompetenzen und der Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung zusammensetzen (Art. 58a AIG). Das Bürgerrechtsgesetz (BüG), sieht zudem vor, dass Schweizerischen Doppelbürger*innen der Schweizer Pass unter gewissen Umständen entzogen werden kann.

Migrations- und bürgerrechtliche Bestimmungen ziehen also Grenzen und prekarisieren damit den Aufenthalt von Personen in der Schweiz. Dies wirft die Fragen auf, wer unter welchen (rechtlichen) Bedingungen Ansprüche gelten machen kann und schliesslich, wer dazugehört und wer nicht.

Der (Nicht-)Bezug von Sozialhilfe

Im Bereich der Sozialpolitik ist der (Nicht-)Bezug von Sozialhilfe durch ausländische Personen ein Beispiel dafür, wie ein Grenzziehungsmechanismus mobilisiert wird. Das (Migrations-)Recht unterscheidet zwischen Menschen mit oder ohne Schweizer Pass, indem es festlegt, ob Letztere staatliche Leistungen zur Existenzsicherung beziehen können – auch wenn ein entsprechender Rechtsanspruch besteht! Denn das teilrevidierte AIG, das seit dem 1. Januar 2019 in Kraft ist, schafft – ähnlich wie das vorherige Ausländergesetz (AuG) – die Möglichkeit, ausländischen Personen die Aufenthalts-, respektive Niederlassungsbewilligung bei Bezug von Sozialhilfe zu widerrufen (Art. 62 AIG; Art. 63 AIG).

Eine Revision mit weitreichenden Folgen, denn gemäss Zahlen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) aus dem Jahr 2019 zählen ausländische Personen aus verschiedenen Gründen zur Risikogruppe mit der höchsten Sozialhilfequote. Insgesamt beziehen nicht alle Personen, die darauf Anspruch haben, existenzsichernde Leistungen der Sozialhilfe und verlieren im Extremfall deswegen ihre Wohnung und Krankversicherung und leiden Hunger. Zudem schreibt die SKOS in einem Analysepapier zur Corona-Pandemie, dass die Sozialdienste aktuell insbesondere einen Anstieg von ausländischen Personen beobachten, die auf den Bezug von Leistungen verzichten – weil sie (negative) Auswirkungen auf ihren Aufenthaltsstatus befürchten.

Das Staatsekretariat für Migration (SEM) hat als Reaktion darauf im Kreisschreiben vom 21. Februar 2021 festgehalten, dass «ein durch COVID-19 verursachter Sozialhilfebezug nicht zu ausländerrechtlichen Konsequenzen führen (soll). Die kantonalen Behörden werden aufgefordert, ihren Ermessensspielraum bei der Verlängerung von Fristen sowie bei der materiellen Beurteilung von Gesuchen zugunsten der Ausländerinnen und Ausländer angemessen auszuschöpfen». Eine Weisung also, die zwar die Auswirkungen der Pandemie abfedern soll, ohne jedoch die prekäre Rechtslage der Betroffenen zu verbessern. Die Stadt Zürich hat kürzlich deshalb eine «wirtschaftliche Basishilfe» geschaffen, welche für «Menschen ohne Zugang zur Sozialhilfe sowie Menschen, die beim Bezug von Sozialhilfe Risiken eingehen», bestimmt ist.

«Armut ist kein Verbrechen»

Weiter hat Samira Marti lm letzten Jahr die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» eingereicht. Sie verlangt, dass die Art. 63 und Art. 62 des AIG dahingehend geändert werden, dass die Niederlassungs- respektive die Aufenthaltsbewilligung von ausländischen Personen mit über 10 Jahren ununterbrochenem und ordnungsgemässem Aufenthalt in der Schweiz nicht aufgrund von Sozialhilfebezug widerrufen werden kann. Parallel dazu läuft eine nationale Petition unter dem gleichen Titel.

Schliesslich ruft auch die SKOS in ihrem Analysepapier (auf Seite 7) dazu auf, den bestehenden Art. 63 Abs. 2 AIG «sehr kritisch zu hinterfragen». Dieser Artikel enthält die Möglichkeit der sogenannten Rückstufung, also der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, wenn die Integrationskriterien nicht erfüllt sind. Dies bedeutet eine Verschärfung, war doch bis zum 1. Januar 2019 im gleichen Artikel im AuG festgehalten, dass ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung von sozialhilfebeziehenden Ausländer*innen, die sich, seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, nicht möglich ist.

Diese Verknüpfung von Sozialhilfe und Aufenthaltsstatus ist nur ein Thema von vielen, das in den nächsten Jahren nicht nur die Soziale Arbeit, sondern auch die ganze Gesellschaft intensiv beschäftigen wird. Denn wie die folgenden Beiträge zu dieser Serie aufzeigen werden, haben Grenzziehungsmechanismen Konsequenzen, die unser Zusammenleben prägen – vor, während und nach der COVID-19 Krise.

Ich wünsche eine gute Lektüre.

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