Intersektionalität als Reflexionsinstrument der Migrationssozialarbeit
Im Bereich der Sozialen Arbeit und bei Debatten um Migration, Mobilität und Integration ist Intersektionalität ein relevantes Reflexionsinstrument zur Erforschung von Machtverhältnissen und sich überlappender Diskriminierungsformen. Dieses Konzept rückt die Erfahrungen von Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihres Migrationshintergrundes benachteiligt werden, ins Zentrum.
Seit den1990er Jahren hat sich, insbesondere durch die feministische Forschung, das Konzept der Intersektionalität in unterschiedlichsten Fachbereichen, wie z.B. der Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Pädagogik etabliert. Neben der akademischen Auseinandersetzung mit intersektionalen Perspektiven, findet auch in feministisch aktivistischen Kontexten und in der sozialpädagogischen Praxis eine zunehmende Auseinandersetzung mit Fragen von Ausschlüssen und Diskriminierungen statt. Im Bereich der Sozialen Arbeit erhält die kritische Auseinandersetzung mit intersektionalen Ansätzen vor dem Hintergrund von Debatten um Migration, Mobilität und Integration eine verstärkte Relevanz.
Das Konzept der Intersektionalität geht zurück auf die Rechtswissenschaftlerin und Schwarze Feministin Kimberlé Crenshaw (1989)*. Diese zeigte in ihrer Arbeit zum Antidiskriminierungsrecht der USA auf, dass – beispielsweise aufgrund des Geschlechts oder rassistisch – diskriminierte Gruppen durch ihre jeweils gesellschaftlich dominanten Vertreter*innen repräsentiert werden. So wird vornehmlich weissen Frauen ein rechtlicher Schutz bei Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts zugesprochen und in Fällen von rassistischer Diskriminierung vornehmlich Schwarzen Männern. Crenshaw zeigte dies beispielhaft an einem Fall von Kündigungen Schwarzer Arbeiterinnen auf. Diese konnten weder auf Geschlechterdiskriminierung, noch auf rassistische Diskriminierung klagen, denn ihre weissen Kolleginnen, sowie ihre Schwarzen männlichen Kollegen blieben weiterhin angestellt. Crenshaw spricht daher von einer Intersektion, also einer Kreuzung von gesellschaftlichen Positionierungen, die zu einer spezifischen Form von Diskriminierung und Unsichtbarkeit u.a. in der Repräsentation von Opfergruppen im Recht führt (Crenshaw 1989).
Überlappende Diskriminierungsformen und Machtverhältnisse
Den Überkreuzungen verschiedener Diskriminierungsformen gingen in den Folgejahren auch verschiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen mit fachspezifischen Fragestellungen nach. Intersektionalität wird hierbei als Konzept zur Erforschung von Machtverhältnissen und der Überlappung verschiedener Diskriminierungsformen – aufgrund von Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, «race», etc. – genutzt. Als sich die Intersektionalität als Analysekategorie etablierte, wurde jedoch auch die Nutzung des Begriffs verstärkt kritisiert.
Insbesondere die Entpolitisierung von Intersektionalität wurde sowohl von Kimberlé Crenshaw selbst als auch von weiteren Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen kritisch diskutiert (Boulila 2018; Crenshaw 2018; Lewis 2013; Roig 2018). Der deutschsprachige Raum kam hierbei wiederholt in das Zentrum dieser Kritik (Boulila 2018; Lewis 2013; Roig 2018): So wird Intersektionalität zunehmend seiner dezidiert anti-rassistischen und feministischen Wurzeln entzogen und als übergeordneter Begriff für Diskriminierungen allgemein verwendet. Diese liberale Perspektive welche dem ursprünglichen Konzept nicht inne liegt, schränkt dessen analytische und politische Nutzbarkeit in Europa weiter ein (siehe auch Boulila in print).
Kooptierung von Frauenrechten für rassistische Politiken
Im Zuge des Minarettverbots haben Forscherinnen und Aktivistinnen begonnen, auf die Wichtigkeit von intersektionalen Ansätzen für die Analyse der Situation in der Schweiz hinzuweisen (Boulila 2013, 2018, in print). Gerade die Kooptierung von Frauenrechten für rassistische Politiken zeigten sich in den Debatten um die sogenannte «Islamisierung» der Schweiz in besonderer Deutlichkeit (Boulila 2013, 2018; Kurt 2018). Dies ist jedoch als ein europaweites Phänomen zu verstehen, welches insbesondere für die Soziale Arbeit wichtige Fragen aufwirft. Die Figur des hypermaskulinen Migranten, der Frauen wie auch queere Personen bedroht sowie der unterdrückten Migrantin, die ‘gerettet’ werden muss, sind ein politisches Instrument, welches seine Schlagkraft bis in liberale Kreise entfaltet (Boulila in print; Boulila/Carri 2017; Castro Varela/Dhawan 2016). Auf dieser Logik fusst auch ein weiterer in der Schweiz verbreiteter Diskurs, der die hiesigen, scheinbar gleichberechtigten (liberalen) Frauen- und Homosexuellenrechte, mit der als rechtlos dargestellten Situation von Frauen und Homosexuellen in anderen, hauptsächlich muslimischen Ländern kontrastiert (Boulila 2013, 2018; Fischer/Dahinden 2016).
Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, dass sich Soziale Arbeit kritisch mit Fragen um Herrschaftsverhältnisse auseinandersetzt. Hierbei sollten insbesondere juristische und gesellschaftliche Ausschlüsse aber auch Fragen der Repräsentation betrachtet werden. In den letzten Jahren fanden sich Akademikerinnen, Praktikerinnen in Verbänden und Nichtregierungsorganisationen (NRO) zusammen, um intersektionale Ansätze in Politik und (soziale) Arbeitsumfelder mit einzubeziehen. So z.B. das Center for Intersectional Justice, eine europaweit tätige NRO, die Intersektionalität in die Policy Arbeit bringen möchte, sowie Aktivistinnen und Organisationen dabei unterstützt, ihre Arbeit intersektional zu denken. Weiter hat der überprofessionelle Zusammenschluss IPäd (Initiative intersektionale Pädagogik) praxisbezogene Materialien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zusammengestellt. Intersektionalität sollte hierbei nicht bloss als Reflexionsinstrument der Migrationssozialarbeit verstanden werden, sondern auch als politische Position, welche die Erfahrungen marginalisierter Menschen ins Zentrum rückt und aus diesen gesellschaftspolitische Forderungen erarbeitet.
Christiane Carri is a lecturer at the School of Social Work, HES-SO Valais-Wallis.
Lisa Marie Borrelli is a Post-doctoral researcher at the School of Social Work, HES-SO Valais-Wallis.
Referenzen:
– Ayim, M. (2001). ‘Die afrodeutsche Minderheit.’ In: AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Arndt, Susan (Hg.). Münster: Unrast Verlag.
– Boulila, S. C. (In print). Race in Post-Racial Europe: An Intersectional Analysis. London: Rowman & Littlefield International.
– Boulila, S. C. (2018). ‘Race and Racial Denial in Switzerland.’ Ethnic and Racial Studies.
– Boulila, S. C. (2013). ‘Insignificant Signification: A Feminist Critique of the Anti-Muslim Feminist.’ In: Jahrbuch für Islamophobieforschung 2013, edited by Farid Hafez. Vienna: New Academic Press.
– Boulila, S. C. and Carri, C. (2017). ‘On Cologne: Gender, migration and unacknowledged racisms in Germany.’ European Journal of Women’s Studies, 24(3): 286–293.
– Castro, V., do Mar, M. , and Dhawan, N. (2016). ‘Die Migrantin retten!? Zum vertrackten Verhältnis von Geschlechtergewalt, Rassismus und Handlungsmacht.’ Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft 3/2016 41: 13–28.
– Crenshaw, K. (1989). ‘Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics.’ University of Chicago Legal Forum, 14: 139–54.
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– Roig, E. (2018, March 6). Intersectionality in Europe: a depoliticized concept? Völkerrechts Blog. Accessed 20.08.2018.
* Die Kursivsetzung des Begriffs weiss soll dessen Konstruktionscharakter verdeutlichen und Weiss-Sein als Normkategorie infrage stellen. Die im Folgenden verwandte Grossschreibung des Begriffs Schwarz verweist auf seine Verwendung als soziopolitischer Identitätsbegriff im Zuge emanzipatorischer Selbstbeschreibungen. Vgl. hierzu etwa Ayim, M. (2001), S. 71-86; Ha, K. N., Lauré al-Samarai, N., Mysorekar, S. (2007), S. 9.